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Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut, besonders viele davon in norddeutschen Städten: Bremerhaven, Wilhelmshaven, Bremen, Delmenhorst, Kiel. Trotz vieler Bemühungen geht ihre Zahl nicht zurück, wie die Bertelsmann-Stiftung in einer aktuellen Studie zeigt. Sie schlägt darum eine Grundsicherung für Kinder vor 43-45

Die Bilder dieses Schwerpunkts stammen aus der Ausstellung „Parallelwelten – Fotoarbeiten zur Kinderarmut in Deutschland“, die bis Ende Juli im Wissenschaftspark Gelsenkirchen zu sehen war. „Fotografie hat nicht die Möglichkeit, Zahlen zu belegen. Jedoch kann sie dafür sorgen, dass man ein Gefühl dafür bekommt, was dieses Schicksal für jede/n Einzelne/n bedeuten kann“, sagt der Fotograf Peter Liedtke, der die Ausstellung initiiert und kuratiert hat. Im kommenden Jahr wird sie an anderen Orten gezeigt. Foto: Yolanda vom Hagen

Von Simone Schnase

Die Zahl der armen Kinder in Deutschland nimmt nicht ab: Das geht aus einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung hervor. Mehr als jeder fünfte Minderjährige lebt danach in Armut, betroffen sind rund 2,8 Millionen Kinder und Jugendliche – und zwar noch vor Beginn der Corona-Krise. Als arm gelten jene, die über so wenig Geld verfügen, dass es nicht möglich ist, den Lebensstandard zu haben, der in Deutschland als selbstverständlich beziehungsweise normal gilt. Am stärksten von Armut betroffen sind Kinder in Bremerhaven, Wilhelmshaven und Bremen.

Für ihre Studie hat die Stiftung zwei wissenschaftlich anerkannte Armutsdefinitionen kombiniert und zählte sowohl die Kinder aus Haushalten, die Leistungen nach dem SGB II, also Hartz IV beziehen, als auch aus solchen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte zur Verfügung haben. Diese beiden Werte sind seit 2009 ungefähr konstant geblieben – und das, obwohl die Wirtschaftskraft im Land seither Jahr für Jahr gestiegen ist.

Geblieben ist vor allem der Abstand: „Die materielle Versorgung von Kindern in der Grundsicherung hat sich in den letzten fünf Jahren etwas verbessert – der relative Unterschied zu Kindern in gesicherten Verhältnissen ist jedoch bestehen geblieben“, heißt es in der Bertelsmann-Studie.

Die Forschungsstelle des Paritätischen Gesamtverbandes hat sich diesen Unterschied genauer angesehen und dazu bereits im vergangenen Jahr eine Studie veröffentlicht. Mit dem Ergebnis,­ dass von 2009 bis 2019 die ohnehin sehr breite Schere zwischen den Haushaltseinkommen der ärmsten und der reichsten Familien in Deutschland­ immer weiter auseinander ging.

Während der Konsum im Durchschnitt der Bevölkerung moderat und beim obersten Zehntel spürbar zugenommen hat, mussten sich die ärmeren Kinder laut der Studie des Paritätischen­ über die Jahre immer weiter einschränken: Arme Familien hatten real weniger Geld als noch zehn Jahre zuvor zur Verfügung, um ihren Kindern mehr als das physisch Notwendige zu finanzieren. Wobei dieses „mehr“ für arme Kinder nichts Geringeres als Chancengleichheit und Teilhabe bedeuten würde, also die Basis dafür, wenigstens später, als Erwachsene, der Armutsfalle zu entkommen.

So hat laut Bertelsmann-Studie jeder vierte von Armut betroffene Haushalt keinen internetfähigen Computer. Jedes­ zweite Kind aus armen Familien lebt in einer Wohnung, die zu klein ist, um regelmäßig ungestört lernen zu können. 75 Prozent der armen Familien sind nicht in der Lage, einen festen­ Betrag im Monat zur Seite zu legen. Eine einwöchige Urlaubsreise im Jahr ist für 73 Prozent der armen Familien nicht drin, einmal im Monat ins Theater, ins Kino oder in ein Konzert ist für 54 Prozent unmöglich und über 35 Prozent kaufen für sich und ihre Familie nicht einmal hin und wieder neue Kleidung. 45 Prozent der armen Kinder bekommen unregelmäßig oder gar kein Taschengeld.

Die Kinder aus armen Familien sind, so die Studie, sozial isoliert: Sie sind seltener Mitglieder in Vereinen als Gleichaltrige, die in gesicherten Einkommensverhältnissen leben. Sie nehmen seltener an Ausflügen und Klassenfahrten teil. Sie laden seltener Freunde nach Hause ein, weil einerseits der Platz fehlt und weil sie sich andererseits schämen: für die schäbigen Möbel und für die beengten Wohnverhältnisse.

Der größte Teil von ihnen lebt in Familien,­ die Hartz IV bekommen. Und von Hartz IV betroffen sind zum allergrößten Teil Alleinerziehende oder Eltern­ von drei oder mehr Kindern. Die Zahl der LeistungsempfängerInnen ist, anders als die Zahl der armen Kinder insgesamt, bundesweit gesunken, vor allem in Ostdeutschland: Lag dort Ende 2014 der Anteil der Kinder unter 18 Jahren­ in Familien im SGB-II-Bezug noch bei 22,1 Prozent, waren es Ende 2019 nur noch 16,9 Prozent. In Westdeutschland sind die Zahlen hingegen leicht gestiegen: von 12,9 Prozent auf 13,1.

Der Anteil der Kinder unter 18 Jahren in Familien mit SGB-II-Bezug lag 2019 bundesweit bei 13,9 Prozent

Bremerhaven: 35,2 Prozent

Wilhelmshaven: 33,8 Prozent

Bremen: 30,8 Prozent

Delmenhorst: 29,7 Prozent

Kiel: 28,9 Prozent

Salzgitter: 28,8 Prozent

Flensburg: 28,2 Prozent

Hamburg: 19,7 Prozent

Gestiegen ist die Zahl der Kinder, die von Hartz IV leben müssen, auch im ohnehin armen Bremen: von 29,6 auf 31,6 Prozent – wobei mit über 35 Prozent die Kinder in Bremerhaven­ am meisten betroffen sind. Um sie zu unterstützen, gibt es vor Ort Initiativen wie das Projekt „Sonnenblume“ im Hochhausviertel Leherheide: 15 teils festangestellte Mitarbeiter­Innen unterstützen nachmittags Kinder bei den Hausaufgaben, helfen beim Lesen lernen, geben Nachhilfe, im Sommer bieten sie einwöchige Ferienfreizeiten an. Finanziert wird „Sonnenblume“ durch Spendengelder, den Verkauf­ von Secondhand-Kleidung und Sponsoren. Fast ausschließlich spendenfinanziert ist auch der Verein „Rückenwind“ für Kinder des ärmsten Bremerhavener Stadtteils Lehe, der an vier Nachmittagen pro Woche Kindern bis 14 Jahren­ ein kostenloses Freizeit- und Nachhilfeangebot macht, Ferienprogramme anbietet und für ein warmes Essen am Tag sorgt.

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Euro im Monat sieht der Hartz-IV-Regelsatz für Kinder von 6 bis 14 Jahren vor

Quelle für alle Zahlen: hartziv.org

Letzteres löst bei vielen Menschen Kopfschütteln aus und bedient ein weitverbreitetes­ Vorurteil, nach dem LeistungsbezieherInnen ihr Geld eher für Zigaretten und Alkohol als für Essen ausgeben. Auch darauf gehen die Bertelsmann-ForscherInnen ein und verweisen auf eine Studie von Holger Stichnoth und seinem­ Team vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Mannheim. Sie zeigt, dass das Geld der bedürftigen Eltern zum überwiegenden Teil durchaus bei den Kindern ankommt und sinnvoll ausgegeben wird – zum Beispiel für die Hobbys der Kinder oder für eine größere Wohnung. Arme Eltern sparen sogar häufig an sich selbst, um ihren Kindern möglichst viel zu ermöglichen.

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Euro davon sind für „Nahrungsmittel und nichtalkoholische Getränke“ gedacht

Bloß reicht es nicht. Daran haben auch staatliche Maßnahmen wie das Bildungs- und Teilhabepaket nichts geändert – die Anzahl der armen Kinder hat sich nicht zum Positiven verändert. Deswegen fordern sowohl die Bertelsmann-­Stiftung als auch der Paritätische Gesamtverband einen radikalen Systemwandel: Kinder sollten komplett aus dem Bezug von SGB-II-Leistungen herausgenommen werden, stattdessen müssten sie eine eigens auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Grundsicherung erhalten, die nicht im Sozialgesetzbuch, sondern im Kinder- und Jugendhilfegesetz festgeschrieben werden soll – und somit nicht über das Jobcenter, sondern über das Jugend­amt gewährt wird.

45,74

Euroim Monat dürfen Kinder zwischen 6 und 14 Jahren nach dem Hartz-IV-Regelsatz für Kleidung und Schuhe ausgeben

„Kinder sind keine kleinen Arbeitslosen, die haben im Jobcenter gar nichts verloren. Im Jobcenter ist auch gar nicht die pädagogische Kompetenz da, um zu sagen, was braucht hier ein Kind, das gehört ins Jugendamt, wie bei allen anderen Kindern auch“, sagte im Deutschlandfunk Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen.

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Euro dürfen für Gesundheitspflege aufgewendet werden

Die Coronakrise verschlimmert die Lage der armen Kinder: Die Eltern, die häufig in Teilzeit oder auf Minijob-Basis gearbeitet haben, sind oftmals arbeitslos geworden. Viele Unterstützungsangebote für bedürftige Kinder und Jugend­liche sind weggebrochen. Homeschooling­ konnte nicht stattfinden – wie auch, ohne internet­fähigen Computer und ohne Platz zum Lernen?

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Euro sind für „Unterhaltung, Freizeit und Kultur“ vorgesehen

Es drohe „ein deutlicher Armutsanstieg“, sagte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, vergangene Woche und forderte, dass die Vermeidung von Kinderarmut in der Corona­krise politische Priorität bekommen müsse. „Ich habe die Hoffnung, dass die Krise nochmal wie ein Brennglas den Fokus auf die Situation der Kinder in Armut gelenkt hat, um jetzt endlich etwas gegen Kinderarmut zu tun“, sagte er.

5,21

Eurodarf fürs Essengehen ausgegeben werden („Beherbergungs- und Gaststättendienstleistungen“)