Geflüchtete auf Samos: Schnelle Hilfe in schlimmen Zeiten

NGOs auf Samos fürchten Corona, geschlossene Camps und Pushbacks. Die Refugee Law Clinic Berlin startet deshalb jetzt ein neues Online-Projekt.

Ein Geflüchteter schaufelt Erde vor einem behelfsmäßigen Zelt auf Samos

Die Zustände rund um den „Hotspot“ auf Samos sind dramatisch Foto: Petros Giannakouris AP

BERLIN taz | Schimmliges Essen, lange Schlangen an der Wasserausgabe, sexuelle Gewalt – die Verhältnisse im massiv überfüllten Flüchtlingscamp auf Samos sind katastrophal. Etwa 5.500 Geflüchtete befinden sich zur Zeit auf der kleinen Insel nahe des türkischen Festlands. Weil das Sammellager, ein sogenannter „Hotspot“, eigentlich nur für 650 Menschen gedacht war, müssen viele der Geflüchteten auf behelfsmäßige Zelte im umliegenden Dschungel ausweichen.

Die studentische Refugee Law Clinic Berlin, die ehrenamtliche Beratung für Geflüchtete in Deutschland anbietet und auf Samos ein Rechtsinformationsprojekt betreibt, sieht in den katastrophalen Bedingungen eine Menschenrechtsverletzung. Aus Sorge angesichts der Corona-Pandemie und der verschärften Flüchtlingspolitik Griechenlands hat die RLC nun ein neues Online-Projekt gestartet. „I Have Rights“ soll dafür sorgen, dass besonders schutzbedürftigen Menschen auf Samos schneller und reibungsloser geholfen wird.

„Die Website dient einem vereinfachten Zugang zur Beantragung von Anordnungen vorläufigen Rechtsschutzes durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte“, sagt Franziska Schmidt, die den Berliner Ableger der Refugee Law Clinic und die Zweigstelle in Samos mitbegründet hat und das neue Projekt koordiniert.

Ab sofort sollen Geflüchtete auf www.IHaveRights.eu Angaben zu ihrer Situation machen können. Nach einem Gespräch – persönlich oder digital – bearbeitet dann das Team in Berlin den Fall und stellt einen Antrag am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Sieht der eine drohende Menschenrechtsverletzung, kann er die griechische Regierung zum Handeln anweisen, bis es zur Hauptverhandlung kommt.

Den Finger in die Wunde legen

Solche Anträge stellt die RLC auch ohne Online-Tool bereits seit vergangenem September, mit überraschendem Erfolg: In 41 von 50 Fällen veranlasste der EGMR ein Umquartieren der Geflüchteten – in einen Container, ein Apartment oder sogar auf das Festland.

„Langfristig ist das Ziel, durch diese Entscheidungen und deren Publikation den Finger so auf die Wunde zu legen, dass irgendwann mal was systemisch verändert wird und nicht nur für den Einzelfall“, sagt Franziska Schmidt. Seit einem Monat ist die 27-jährige wieder auf der Insel. Normalerweise kümmern sich wechselnde Teams aus Freiwilligen vor Ort um Anhörungsvorbereitungen, Familienzusammenführungen und Informationsworkshops. Unterstützt werden sie von Übersetzer*innen und einer griechischen Anwältin.

Im Frühjahr hatten die NGOs auf Samos aber beschlossen, keine weiteren Volunteers mehr anreisen zu lassen, um die damals Corona-freie Insel nicht zu gefährden. Ein Grund, warum die Berliner Studierenden-Organisation jetzt auf Digitalisierung setzt.

Die Idee, „ein Rechtsinformationsangebot digital zur Verfügung zu stellen, ist nicht neu“, sagt Schmidt. Bisher habe man wegen der sensiblen Daten aber von einer Digitalisierung abgesehen: „Es ist nicht so wie bei wenigermiete.de, wo man einfach Bezirk, Miete und Alter des Hauses eingibt und zack, fertig: Diesen Anspruch hast du.“ Stattdessen komme es immer auf den Einzelfall an. „Das ist ein Punkt, warum im Human Rights Bereich Legal Tech noch nicht so fortgeschritten ist“, sagt Schmidt. Und fügt mit einem bitteren Lächeln hinzu: „Und natürlich weil es kein Geld dafür gibt“.

Boote werden abgefangen und zurückgedrängt

Die Refugee Law Clinic Berlin musste sich selbst eine Zeit lang mit Spenden über Wasser halten, seit Juli erhält der Verein aber eine Förderung der Zivilen Seenotrettung und konnte so das neue Projekt in die Wege leiten. Gerade rechtzeitig, denn die Lage auf Samos ist ernst.

Seit Februar bleiben die Neuankömmlinge hier aus. In der dritten Augustwoche erreichte dem Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen UNHCR zufolge nicht ein Geflüchteter die Insel. Vor einem Jahr waren im gleichen Zeitraum noch 533 Menschen angekommen. Schließlich ist der Sommer die beste Zeit, um die gefährliche Überfahrt zu wagen. Schmidt und ihre Mitstreiter*innen befürchten daher, dass ankommende Boote abgefangen und zurückgedrängt werden: „Es ist unrealistisch, dass die Zahlen der Ankommenden gleich null sind. Deswegen kann man ziemlich sicher von illegalen Pushbacks ausgehen“.

Franziska Schmidt, Refugee Law Clinic Berlin

„Es kann nicht sein, dass wir staatliche Aufgaben übernehmen.“

Wie die New York Times berichtete, sollen die griechischen Behörden mindestens 1.072 Asylsuchende an den Rändern der europäischen Gewässer in zum Teil überfüllten Rettungsbooten ausgesetzt haben. Die NYT beruft sich dabei neben den Aussagen von Überlebenden auf unabhängige Beobachter*innen, Wissenschaftler*innen und die türkische Küstenwache. Aus Athen hingegen wird dementiert.

Dass Griechenland seit der Wahl der neuen, konservativen Regierung im vergangene Jahr einen härteren Kurs gegen Migrant*innen fährt, zeigt sich auch in der fortschreitenden Errichtung geschlossener Camps, sogenannter „pre removal center“, auch auf Samos. Erst Anfang August bewilligte die EU-Kommission dafür Zuschüsse in Höhe von 130 Millionen Euro. Die angespannte Beziehung zwischen Griechenland und der Türkei sowie die Corona-Pandemie verschärfen die Situation zusätzlich.

Hilfe erstmal nur für besonders Schutzbedürftige

„Wir wissen nicht, ob nochmal ein Lockdown kommt oder nicht. Es gab ja schonmal einen, obwohl Samos damals noch überhaupt keinen Fall hatte“, erzählt Projektkoordinatorin Schmidt. Nachdem auf der Nachbarinsel Chios vor Kurzem zwei Corona-Infektionen bekannt geworden waren, war das gesamte Camp unter Lockdown gestellt worden. „Das kann eben auf Samos auch passieren.“

Die Website www.IHaveRights.eu soll nun sicherstellen, dass Geflüchtete auch während eines Camp-Lockdowns Zugang zu juristischer Information haben. Bisher richtet sich das Angebot nur an Schwangere, unbegleitete Minderjährige und Schwerkranke – also an die besonders Schutzbedürftigen, gerade in Zeiten von Corona. Alle anderen müssen bis auf weiteres vertröstet werden.

„Der nächste Musterantrag, an dem wir arbeiten, ist für LSBTQI Personen (Lesben, Schwule, Transgender, die Redaktion) im Camp, weil auch diese dort besonders gefährdet sind“, sagt Franziska Schmidt. „Natürlich sehen wir, dass jede Person im Camp vulnerabel ist. Aber es ist deutlich schwerer, einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz für einen gesunden, jungen Mann zu schreiben, deshalb arbeiten wir uns peu a peu vor“.

Das Projekt soll nicht nur Geflüchtete über ihre Möglichkeiten informieren, es soll umgekehrt auch die europäische Zivilgesellschaft auf die Zustände auf Samos hinweisen. Dazu führt die RLC unangenehme Zahlen ins Feld. Etwa haben 91 Prozent der Geflüchteten, die die Hilfe der RLC in Anspruch genommen haben, hatten mit Ratten, Schlangen oder Skorpionen in ihren Unterkünften zu kämpfen. 56 Prozent fühlen sich nicht sicher oder haben sexuelle Gewalt im Lager erlebt. Und im Durchschnitt warten sie jeweils etwa zwei Stunden auf Essen und Wasser.

Untragbare Zustände, findet Franziska Schmidt, und hofft, dass NGOs auf anderen Inseln in das Projekt mit einsteigen und ihr Engagement irgendwann vielleicht nicht mehr nötig sein wird: „Das ultimative Ziel sollte unsere Abschaffung sein, weil es nicht sein kann dass wir staatliche Aufgaben übernehmen.“

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