Sally Rooneys Roman „Normale Menschen“: Lass uns über Klasse reden, love
Der für den Man-Booker-Preis nominierte Roman ist voll von Millennials, die politisch denken, aber nicht handeln. Warum eigentlich nicht?
Semesterferien am Trinity College, Irlands renommiertester Uni. Connell, Literaturstudent und Arbeiterkind, kann es sich nicht leisten, den Sommer über seine Miete in Dublin zu bezahlen. Eigentlich will er gern bei seiner besten Freundin und On-Off-Affäre Marianne wohnen, deren Mittelschichtfamilie ihre Wohnung mietet. Doch weil er sich nicht traut, sie zu fragen, gehen die beiden getrennter Wege – und legen ihre Romanze erst einmal aufs Eis.
Das ist symptomatisch: Den Plot in Sally Rooneys für den Man-Booker-Preis nominierten Roman “Normale Menschen“ treibt die Scham ihrer Protagonist*innen an. “Normale Menschen“ ist voll von der Unfähigkeit eines brainy Paares, trotz oder wegen der vielen Bücher, die sie gelesen haben, auszudrücken, was sie eigentlich voneinander wollen.
Dabei ist das ziemlich viel. Das Zweitwerk der 29-jährigen irischen Autorin begleitet Marianne und Connell von ihrer Jugend im ländlichen Sligo nach Dublin. Ihre Romanze beginnt, als Connell ein beliebter schweigsamer Fußballstar ist und Marianne ihre Außenseiterrolle durch Proust-Lektüre vorm Spind sublimiert.
Sie schämt sich, dass seine Mutter bei ihr zu Hause putzt, er schämt sich, dass er ausgerechnet mit ihr seinen “verdorbenen und geheimen Begierden nachgeht“ und sie “am helllichten Tag“ fragt: “Ist es okay, wenn ich in deinem Mund komme?“
Sally Rooney: „Normale Menschen“. Aus dem Engl. von Zoë Beck. Luchterhand Verlag, München 2020, 320 Seiten, 20 Euro
Später treffen sie sich beim Studium in Dublin wieder. Einander los lassen sie sich in den nächsten Jahren nie ganz, dazu funktioniert sie zu gut, ihre Intimität, ob im Bett oder per Mail: Sie sind “wie Eiskunstläufer“, schreibt Rooney, “ihre Gespräche so versiert und so perfekt synchron, dass es sie beide erstaunt“.
Orientierungslos in der Klassengesellschaft
Und doch halten sie etwas zurück voreinander, führt Connell lieber eine angemessene Beziehung mit einer Frau, deren Freundinnen ihn nicht dafür runtermachen, dass er nur ein einziges Paar Schuhe besitzt: “Mit Helen empfindet er keine Scham.“
Als wären sie persönlich verantwortlich für ihr Privileg (oder den Mangel daran), zeigt Rooney gekonnt auf, wie Klassenscham nicht nur von unten nach oben, sondern auch von oben nach unten verläuft. Diese vielseitige Beschämung hat hierzulande zuletzt Daniela Dröscher in ihrem biografischen Essay “Zeige deine Klasse“ unter die Lupe genommen.
In “Normale Menschen“ lässt sie die Hauptfiguren orientierungslos zurück. Denn obschon sie es besser wissen, landen sie angesichts der Erniedrigung durch das Patriarchat oder die Klassengesellschaft am Ende doch wieder bei sich selbst.
Schwere Themen und Adverb-Reigen
Da passt es nur ins Bild, dass Marianne den emotionalen und physischen Missbrauch durch Mutter und älteren Bruder über sich ergehen lässt und sadomasochistische Beziehungen nicht aus Lustgewinn, sondern zur Selbsterniedrigung eingeht: „Manchmal glaube ich, ich verdiene etwas Schlechtes, weil ich ein schlechter Mensch bin.“
“Normale Menschen“ ist voll von schweren Themen, von Essstörung und häuslicher Gewalt, von Suizid und Depression. Und dennoch liest sich das bemerkenswert leicht, auch weil Rooney diese Felder eher streift, als dass sie sie festhält.
Der Adverb-Reigen – der Himmel ist “delierend blau“, Augen “kalt deutend“ – und die ohne Anführungszeichen versehenen Dialoge ziehen das Tempo an. Rooney lesen ist, wie schon bei ihrem Debütroman “Gespräche mit Freunden“, so vergnüglich und flüchtig, wie im Sommer schnell mit dem Fahrrad einen Abhang herunterfahren.
Dann wärst du der Hengst
Leider bringt einen Zoë Becks Übersetzung dabei stellenweise aus dem Tritt. Da steht dann: „Es werden lauter Mädchen in deinen Kursen sein, du wärst dann total der Hengst“ oder: „Er könnte mit schräg aussehenden Mädchen vögeln.“ Irritierend ist auch, dass die Figuren an keiner Stelle englische Begriffe verwenden – undenkbar für deutschsprachige Millennials.
Rooneys Ruhm – zuletzt in Form der Serienverfilmung von “Normale Menschen“ – basiert auch auf ihrer Vermarktung als Millennial par excellence, als Vertreterin einer Kohorte, die bestens ausgebildet ist und trotzdem nie so viel Wohlstand erlangen wird wie die Elterngeneration. Gesellschaftliche Verhältnisse abbilden zu wollen ist genau das, was die bekennende Marxistin immer wieder erklärt hat.
Eine Generation hält die Luft an
Aber will sie die Welt nicht nur interpretieren, sondern auch verändern? “Vielleicht kann Literatur Teil des sozialen Wandels sein“, sagt die Autorin, die sich ihre öffentlichen Auftritte mit 25.000 bis 50.000 US-Dollar vergüten lässt. Doch warum sind ihre Charaktere, die sich keine Illusion darüber machen, jemals einen guten Job zu bekommen, nicht wütender? Könnten sie ihrer Scham ein Schnippchen schlagen, wenn Rooney ihnen die Gelegenheit dazu gäbe?
“Normale Menschen“ erfasst einen historischen Moment, in dem eine Generation die Luft anhält.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump erneut gewählt
Why though?
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
Harris-Niederlage bei den US-Wahlen
Die Lady muss warten
US-Präsidentschaftswahlen
Die neue Epoche
US-Präsidentschaftswahlen
Warum wählen sie Trump?
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala