: Deutsch-Südwest an der Nordsee
Trug der nordfriesische Bahnbauer Sönke Nissen zum Genozid an den Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika bei? Ein Historiker fordert, den Sönke-Nissen-Koog in Reußenköge umzubennen
Kalkfontein, Karrasland, Elisabethbay – sieben Bauernhöfe in der Gemeinde Reußenköge an der Nordseeküste bei Husum sind benannt nach Bahnstationen im früheren Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia. Für deren Bau verantwortlich war Sönke Nissen, der hier in der Nähe im Jahr 1870 geboren wurde. Ein 1926 fertiggestellter Koog trägt seinen Namen. Nissens historische Rolle erhitzt jetzt die Gemüter. Trug er als Bahnbau-Ingenieur zum Völkermord der deutschen Kolonialmacht an Herero und Nama Anfang des 20. Jahrhunderts bei?
Für Historiker Marco L. Petersen von der dänischen Centralbibliotek in Flensburg ist das erwiesen. Er hat wochenlang im namibischen Staatsarchiv geforscht und einen fast 500-seitigen Sammelband zur regionalen Kolonialgeschichte herausgegeben. „Die beim Bahnbau eingesetzten Zwangsarbeiter waren Kriegsgefangene, die von Nissens Firma in ein Lager gesteckt wurden“, schildert Petersen. „Die Zustände waren unmenschlich, die Menschen starben wie die Fliegen.“ Das ganze Thema ist umstritten und emotional.
„Man muss das in seiner Zeit sehen“, sagt Johannes Volquardsen (80), bis 2013 zehn Jahre lang Bürgermeister. „Nissen hat das System nicht gemacht; er hat die Arbeiter arbeiten lassen, aber wahrscheinlich hatte er keine andere Wahl.“ Er werde auch die Arbeiter gut behandelt haben: „Sonst wäre es nicht zu schaffen gewesen, den Bahnbau wesentlich vor der geplanten Zeit fertigzustellen.“ Auf Nissens Bestreben sei auch ein Krankenhaus gebaut worden.
Regionalgeschichtliche Legende
„Viele Belege zeigen, dass er das System für seinen Reichtum ausgenutzt und es gefördert hat“, betont Historiker Petersen. Nissen verdiente nicht nur als Bauingenieur sein Geld: Er wurde mit an der Bahntrasse gefundenen Diamanten reich, nachdem er Schürfrechte erworben hatte. Von 2.014 zur Arbeit gezwungenen Herero und Nama seien 1.359 von Januar 1906 bis Juni 1907 gestorben, sagt Petersen. „Die Mortalitätsrate beträgt also 67 Prozent.“ Das sei alles belegt. Nissen habe entsprechende Belege unterschrieben.
Der Koog, in dem die sieben „Namibia-Häuser“ stehen, war nach Nissen benannt worden, weil der Nordfriese den Bau erheblich mitfinanziert hatte. Das Geld der heimischen Initiatoren reichte nicht. Schließlich wurden 28 Höfe gebaut.
In Nordfriesland ist eine Umbenennungsdebatte entflammt. „Auf keinen Fall“, sagt Volquardsen dazu. „Ich habe die Fakten geliefert und möchte eine Debatte über unsere Erinnerungskultur anstoßen“, äußert Petersen. Dass er ein heißes Eisen angepackt hat, ist ihm klar. „Es geht um eine regionalgeschichtliche Legende.“
Das Ganze treibt auch die Politik um. Der Landtag diskutierte darüber auf SSW-Initiative. Heute wisse man, dass Nissens Reichtum auch auf Ausbeutung schwarzer Zwangsarbeiter beruhte, die an Unterernährung, Entkräftung und Krankheiten gestorben sind, sagte Fraktionschef Lars Harms.(dpa)
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