Italien nach dem EU-Gipfel: Europäische Umarmung

Lange hatten die EU und insbesondere Deutschland keinen guten Ruf in Italien. Nach dem EU-Gipfel singen selbst rechte Politiker „O sole mio Europa“.

Eine Gondel mit zwei Menschen und dem Gondelführer scheimmt vir Venedig

„O sole mio“ singt man zwar in Neapel, nicht in Venedig. Aber singen ist wegen Corona gerade eh' nicht Foto: reuters/Fabrizio Bensch

ROM taz | Der ältere Herr aus der Nachbarschaft kriegt sich gar nicht mehr ein. „Fantastisch!“, sprudelt es aus ihm heraus, „Europa lebt, es ist wieder da, und das haben wir dem Dreigestirn Conte, Merkel und Macron zu verdanken!“

Der Mann, vor der Verrentung beim Olympischen Komitee Italiens beschäftigt, ließ in den vergangenen Jahren eigentlich nie ein gutes Haar an „la Merkel“, kein gutes Haar auch nicht an Germania, doch jetzt erweckt er den Eindruck, als wolle er dem deutschen Journalisten gleich um den Hals fallen, wenn da nur nicht das Coronavirus wäre.

„Wenn die drei so weitermachen, können sie noch Großes für Europa erreichen“, schließt der Nachbar seine enthusiastische Bilanz des EU-Gipfels.

Gipfelnachlese

Der Mann steht nicht allein. Medienleute, Minister*innen, Vertreter*innen der Regierungsparteien: Ihnen allen scheint ein Stein vom Herzen gefallen zu sein.

Ein Ökonom kommentierte in der Nachrichtensendung des Staatsfernsehens RAI1, Europa habe jetzt endlich „den Weg von der Austerität zur Solidarität“ gefunden, im Parlament feierten die Regierungsfraktionen den Ministerpräsidenten Giuseppe Conte mit stehenden Ovationen, als der sich zur Gipfelnachlese einfand, und Andrea Marcucci, Fraktionsvorsitzender der Partito Democratico (PD) im Senat, befand, Italien dürfe jetzt feiern „wie bei einer Weltmeisterschaft“.

Autocorsos gab es zwar keine in Rom oder Mailand, doch die Begeisterung ist echt. Vier Tage lang hatte das Gezerre im Europäischen Rat den Eindruck hinterlassen, Italien müsse große Abstriche gegenüber den Ursprungsvorschlägen der Kommission hinnehmen – doch am Ende kam weit mehr heraus als erwartet.

Nach dem Kommissionsplan sollten 172 Milliarden Euro aus dem Recovery Fund Italien zugutekommen, im finalen Beschluss beträgt diese Summe jetzt 209 Milliarden.

Italien darf sich jetzt darüber freuen, dass es den dicksten Batzen aus den europäischen Aufbaumitteln bekommt. Gerechtfertigt ist das dadurch, dass es mit der Pandemie auch den tiefsten wirtschaftlichen Einbruch erlebte. 11,2 Prozent soll im Jahr 2020 nach einer Prognose der EU-Kommission der Verlust beim Bruttoinlandsprodukt betragen, so viel wie in keinem anderen Land der EU. Zum Vergleich: In Deutschland wird ein Minus von 6,3 Prozent erwartet.

Die Misere lässt sich im Alltag beobachten. Zwar pulsiert in Rom an den Wochenendabenden das Leben rund um die Ausgeh-Hotspots so wie vor Covid-Zeiten. Der Umsatz der Lokale in Trastevere brummt, die Tische auf der Piazza sind voll besetzt, Hunderte Leute, vor allem jüngere, stehen drum herum, Bier in der Hand, in den Gassen herrscht weitgehend masken- und abstandsfreies Gedränge.

Das Pantheon ist gähnend leer

Doch das Bild täuscht. Tagsüber ist Roms Zentrum ungewohnt ruhig. Der Souvenirshop gleich hinter dem Pantheon hat offen, doch er ist gähnend leer. „Schatz, hier geht es lang“, erklingt plötzlich eine Stimme auf Deutsch, und sie weckt ehrliches Erstaunen bei dem Zuhörer, der sich daran gewöhnt hat, dass am Pantheon oder am Trevibrunnen nur noch Italienisch zu hören ist.

„Wir haben uns mehr erhofft, als Anfang Juni die Schengen-Grenzen wieder aufgemacht wurden“, sagt Giuseppe Roscioli, Präsident der Federalberghi, des Hoteliersverbandes von Rom, „doch auch wenn die Leute in Europa jetzt reisen dürfen, bleiben sie zu Hause“. Von den 1.200 Hotels in Rom sind gegenwärtig nur 200 geöffnet, berichtet Roscioli, „und die sind auch nur zu 10 bis 15 Prozent ausgelastet“.

Die Statistik ist in der Tat trostlos. Im gesamten Juni verirrten sich 6.000 ausländische Gäste in Roms Hotels – 99 Prozent weniger als im Vorjahr. Roscioli selbst hat drei seiner sechs Häuser wieder aufgemacht, die anderen bleiben womöglich noch bis März 2021 zu.

Und die Beschäftigten? Die mit unbefristeter Anstellung befinden sich allesamt in Kurzarbeit, dank eines in der Krise verabschiedeten und jetzt noch einmal um gut vier Monate verlängerten Sonderprogramms komplett und flächendeckend staatlich finanziert. Etwa vier Millionen Arbeitnehmer*innen kamen in den Genuss dieser Maßnahme, flankiert durch einen bis Mitte August geltenden Entlassungsstopp, den die Regierung jedoch ebenfalls bis zum Jahresende verlängern will.

Dennoch steigt die Arbeitslosigkeit, allein schon, weil in den vergangenen Monaten eine halbe Million Zeitverträge ausgelaufen sind, ohne dass sie verlängert worden wären. Und da wären noch die Millionen kleinen Selbstständigen, die Inhaber*innen von Läden, Bars und Restaurants, denen die Umsätze weggebrochen sind, denen jetzt auch der Absturz in die Armut droht.

Banco Alimentare, eine der wichtigsten karitativen Organisationen auf dem Feld der Versorgung von Armen mit Lebensmitteln, fürchtet für das nächste Jahr eine Verdoppelung der Zahl der absolut Armen von 5 auf 10 Millionen Menschen.

Die Regierung hält dagegen, stützt Arbeitsplätze und Einkommen, stundet Steuern für Selbstständige und Unternehmer. Im Staatshaushalt hinterlässt das tiefe Spuren. Die zusätzliche Covid-bedingte Aufnahme von Schulden liegt in diesem Jahr bei 100 Milliarden Euro, die Neuverschuldung geht damit auf 12 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) hoch, der gesamte Schuldenberg wächst auf 160 Prozent des BIP.

Zweifel an den Deutschen

Angesichts solcher Zahlen herrschte in Italien, in der politischen Klasse genauso wie in der Bevölkerung, das sichere Gefühl, allein könne es das Land nicht schaffen. Zugleich aber hatte Italien sich in den letzten zehn Jahren immer wieder „von Europa allein gelassen“ gesehen, egal ob in der Euro- oder in der Flüchtlingskrise.

Und auch in den ersten Wochen der Covid-Pandemie schien sich dieser Eindruck wieder einmal zu bestätigen. Da war im März, als Italien schon voll von der Pandemie getroffen war, als es schon Tausende Toten gab, das von Frankreich ebenso wie von Deutschland verhängte Ausfuhrverbot für Schutzmasken. Es wurde zwar schnell wieder aufgehoben, doch der dadurch angerichtete Schaden blieb.

Dazu kam die deutsche Ablehnung einer gemeinsamen europäischen Antwort auf die Covid-bedingte Rezession, die Italien verlangte. Eurobonds? Für Wirtschaftsminister Peter Altmaier war das eine „Gespensterdebatte“, für die Kommissionspräsidentin der EU Ursula von der Leyen ein „Slogan“, der keiner weiteren Beachtung bedurfte.

Die Folge: In dem Land, dessen Bevölkerung einst ganz vorne lag, wenn es um Europa-Begeisterung ging, konnten sich im April/Mai 50 Prozent der Menschen in Meinungsumfragen einen Austritt Italiens aus EU und Euro vorstellen. Platz eins und zwei als „Italien feindlich gesinnte Nationen“ gewannen Frankreich und Deutschland, als wahre Freunde kamen dagegen China und Russland – die damals öffentlichkeitswirksam Ärzteteams und medizinische Hilfsgüter schickten – ganz oben aufs Treppchen.

Doch dann kam im Mai der Merkel-Macron-Vorstoß für einen europäischen Recovery Fund von 500 Milliarden Euro, kam der Vorschlag der EU-Kommission, der auf 750 Milliarden erhöhte, kam schließlich der Gipfel. Und plötzlich hat „Europa“ wieder einen guten Klang in Italien, sind die Schurken nicht mehr die EU und Deutschland, sondern bloß noch die „frugalen Vier“, vorneweg der niederländische Premier Mark Rutte.

Schon vergangene Woche, noch vor dem EU-Gipfel, wollten nur noch 40 Prozent der Italiener*innen raus aus der EU. Selbst Renato Brunetta, einer der Frontmänner der Berlusconi-Partei Forza Italia, sieht jetzt in Angela Merkel – von der er früher nie Gutes zu berichten hatte – „unsere Alliierte“.

Nur Salvini wettert wie gehabt

Wie sehr sich die Stimmung gedreht hat, zeigen nicht zuletzt die Reaktionen aus den Rechtsparteien. Berlusconis Forza Italia lobt den europäischen Recovery Fund über den grünen Klee, aber auch die postfaschistische Partei Fratelli d’Italia (FdI – Brüder Italiens) die unter ihrer Vorsitzenden Giorgia Meloni mittlerweile in den Umfragen bei 14 Prozent liegt, kritisiert nur vorsichtig.

Ministerpräsident Conte habe den EU-Gipfel „auf seinen eigenen Beinen“ verlassen, sprich: er sei nicht umgefallen, bemerkte Meloni vorneweg, um dann zu mosern, Conte hätte „mehr und Besseres“ rausholen können.

Einzig Matteo Salvini, der Chef der Lega, wettert wie gehabt. „Ein Superschwindel“ sei in Brüssel verabschiedet worden, behauptete er nach Ende des Gipfels, doch einen Tag später ruderte er schon vorsichtig zurück, kündigte an, seine Lega werde „in den nächsten Monaten genau prüfen“, was es mit den EU-Mitteln auf sich habe.

An der Regierungskoalition perlt das ab, sie spottet über den schlecht gelaunten Lega-Chef. Der Europaabgeordnete der „Fünf Sterne“ Dino Giarrusso kommentierte: „Conte schlägt Salvini mit 209 Milliarden zu 0 Cent.“

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