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Mit Schlinge, ohne Schnickschnack

Ein neuer Stadtteil soll in Braunschweig entstehen. Bedroht ist damit auch ein besonderes Kultur-Kleinod: „Die H_lle“ bietet vor allem dem Nachwuchs der Kunsthochschule Raum, der sonst fehlt

Von Bettina Maria Brosowsky

Irgendwie müssen die Stadtverwaltungen ja ihre Mitarbeitenden beschäftigen. Beliebt sind dafür Konzeptpapiere mit Zukunftsperspektive, etwa ein Kulturentwicklungsplan. Denn der wird spätestens dann Makulatur, wenn es die verantwortlichen Dezernent:innen an andere Orte zieht, sodass wieder ein neuer erstellt werden kann. Konjunktur hat derzeit auch die Ausweisung neuer Wohn- oder gar „urbaner“ Gebiete. Letztere sind durch eine im Mai 2017 in Kraft getretene Novelle des Baugesetzbuches und der Baunutzungsverordnung möglich geworden, die Intention: „Stärkung des neuen Zusammenlebens in der Stadt“. In Gebieten dieser Deklaration sind Mischungen aus Gewerbe, Wohnen, sozialen, kulturellen und sonstigen Einrichtungen bis hinunter zu Tankstellen realisierbar, es darf dichter und höher gebaut werden, stärkere gewerbliche Lärmimmissionen sind zulässig, so sie das Wohnen nicht wesentlich stören.

In Braunschweig könnte die „Bahnstadt“, so der Arbeitstitel, ein derartiges Projekt werden. Auf nicht mehr oder suboptimal genutzten Flächen des Güterbahnhofs im Süden der Stadt soll ein neuer Stadtteil entstehen. Das, je nach Betrachtungsradius, auf rund 82 bis etwa 140 Hektar abgezirkelte Gebiet kann eines der größten Stadtumbaugebiete Niedersachsens werden und ist bereits offiziell in die Städtebauförderung aufgenommen: Für 15 Jahre wird ein Fördervolumen von rund 21 Millionen Euro veranschlagt.

Kalte Stadtplanerherzen

Als einer der ersten Bausteine steht ein „Urbanes Quartier“ an. Eine schematische Blockstruktur, flott über ein bestehendes kleines Gewerbegebiet gelegt, fand Einzug in das ISEK, jenes „Integrierte Stadtentwicklungskonzept“, das seit geraumen Jahren zum Zauberinstrument der Kommunen wurde, denn es ist der Schlüssel zu weiteren Fördergeldern, auch aus EU-Fonds. Fragt sich nun: Was wird denn da in Braunschweig quasi handstreichartig überplant?

Hier gibt es derzeit etwa zwei Discounter für ein mit urbanen Angeboten nicht gerade gesegnetes angrenzendes Wohngebiet. Sollen die auch noch weg? Und was ist, wenn schon eine Mischung aus Wohnen und Arbeiten angestrebt wird, mit dem bestehenden Kleingewerbe aus Kfz- und Zweiradbetrieben mitsamt seinen Beschäftigten? Auch dafür scheint sich kein Stadtplanerherz so recht zu erwärmen.

Taucht man dann etwas tiefer ein in die betroffenen Adressen „Am Hauptgüterbahnhof“, trifft man unter der Nummer 22A auf ein kulturelles Biotop, wie es in Braunschweig wohl kein zweites gibt: Die „H_lle“, so die etwas kryptische Selbstbezeichnung. Eine etwa tausend Quadratmeter große ehemalige Holzlagerhalle aus den 1960er-Jahren und ein gut doppelt so großes Freigelände, eine idyllisch verlotterte Industriebrache, werden seit rund 16 Jahren von der Kunstwissenschaftlerin Henrike Wenzel betrieben. Wenzel hatte Grund und Immobilie aus einer Insolvenzmasse erworben, als persönliches Atelier sowie Treffpunkt lokaler Initiativen und Künstler:innen genutzt und möchte es langsam und in kleinen Schritten zu einem Ort zum Arbeiten, für Veranstaltungen und die Vernetzung kreativer Branchen weiterentwickeln.

Denn solch ein Ort fehle in Braunschweig, so Wenzel, Studierende und vor allem Absolvent:innen der Hochschule für bildende Künste wandern in andere Städte ab. Waren einmal Berlin oder Köln in der Szene angesagt, ist es nun erstaunlicherweise Hannover: Seit 2016 lockt die Landeshauptstadt mit einer finanziellen Atelier- und Projektraumförderung vor allem junge Künstler:innen an, Hannover will sich so als Kunststandort profilieren.

Henrike Wenzel hingegen steht nur eine große Schar ehrenamtlicher Helfer:innen und lokaler Initiativen zur Seite. Autoschrauber steuern per Miete etwas zu den laufenden Kosten bei, sie selbst verdient ihre Brötchen im sogenannten Projekthaus des Präsidiums der TU Braunschweig.

Seit drei Jahren wird der Außenbereich von verschiedenen Initiativen bespielt, darunter der alternative Kunstverein „Die H_lle“ mit einem zweitägigen sommerlichen Freiluft-Festival. Nach dem Auftakt 2018, der unter dem Motto „in situ“ vor allem das Areal mitsamt belassenem und künstlerisch integriertem Schrott sowie aufgeschossenem Wildwuchs bekannt machen wollte, konnten die Veranstalter:innen 2019 immerhin schon mit einem Grußwort der Kulturdezernentin, also offizieller Wertschätzung, punkten.

Für dieses Jahr ist nun eine weitere Abstimmung mit der Stadt Braunschweig und anderen Institutionen geplant: Das Sommerfestival wird sich anlässlich des zehnten Todestages von Christoph Schlingensief mit seinen Spuren an der Braunschweiger Kunsthochschule befassen. „Schlinge“, so der Kurzname dieses Enfant Terrible der deutschen Kunst-und Theaterszene, hatte seit 2005 Gastprofessuren in Braunschweig inne, ab April 2009 dann die Universitätsprofessur „Kunst in Aktion“. Jetzt fanden sich rund 15 ehemalige Studierende seiner Klasse zusammen, das Spektrum ihrer Präsentationen im Außengelände der H_lle wird von Performance und Konzert über Skulptur bis zu Video und Film reichen.

Von Afrika lernen

Das Städtische Museum Braunschweig vertieft derweil den Einblick ins Operndorf in Burkina Faso, Schlingensiefs letztem großen Projekt. 2009 initiiert, entsteht 30 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Burkina Fasos ein Ort für interkulturelle Austauschprogramme und postkoloniale Diskurse. Langsam wachsen die Bauten, die der aus Burkina Faso stammende, in Berlin arbeitende Architekt Francis Kéré verantwortet: eine Schule mit Kantine, eine Kranken- und Geburtsstation, Wohnhäuser, Ateliers, insgesamt sind es bereits 26 Gebäude.

Kéré setzt auf traditionelle, handwerkliche und kostengünstige Techniken. Entsprechend einfach sind seine Bauten: kein europäischer Schnickschnack verkomplizierter Grundrisse und baukörperlicher Durchdringungen, stattdessen lokal verfügbare Materialien und einfache Konstruktionen, die ohne schwere Baumaschinen von den Bewohner:innen selbst erstellt werden können, eine „Architektur der Notwendigkeit“, so Kéré. Charakteristisch sind frei über den Baukörpern schwebende Dachschirme: Schattenspender und durchlüftete Zone, energetisches Bauen als Selbstverständlichkeit vernakulären Bauwissens.

Francis Kéré zeichnet damit ein anderes Bild Afrikas: Das von Menschen, die nicht Empfänger irgendwelcher Entwicklungshilfen sind, sondern souveräne Bürger, die wissen, wie ihr Leben auszusehen hat, und die es selbst in die Hand nehmen. Und von einer ungebändigten Lebensfreude vor allem der Kinder, wie Filme und Fotos des ersten deutschen Stipendiaten im Operndorf, Tobias Dostal, zeigen.

Lässt sich von Afrika lernen, wie Christoph Schlingensief es immer meinte? Für Henrike Wenzel und ihre H_lle vielleicht so viel: Bislang flog sie mit ihren Aktionen ganz geschickt unter dem offiziellen Radar, denn Bewilligungen benötigte sie wohl nie. Dieses praktizierte „Gewohnheitsrecht“ kann sowohl zur Verstetigung als selbstinitiierter Kulturort beitragen als auch das Aus in der Bürokratie zur „Bahnstadt“ bedeuten. Aber auch im Scheitern sah Schlingensief bekanntlich eine Chance. Und ja: Einen Kulturentwicklungsplan will die Stadt Braunschweig auch angehen.

„Die H_lle“: Braunschweig, Am Hauptgüterbahnhof 22A; Infos: www.arealdiehalle.de, www.kunstvereindiehalle.de;

Input – Export. Schlingensief-Klasse! Projizieren Sie selbst!“: Eröffnung: Sa, 29. August, 18 Uhr, bis 30. August; „Projizieren Sie selbst! Schlingensief-Klasse! Zehn Jahre Erinnern“: bis 27. September, Braunschweig, Städtisches Museum

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