Labyrinth aus Tausenden Kerzen: Poetische Welt auf weitem Feld
Open-Air-Theater: „Die Große Reise. Lebens(t)räume im Lichtermeer“ – das Theater Anu verwandelt das Tempelhofer Feld in eine Märchenwelt.
Bei seiner Entstehung vor vielen Jahren hat das Ehepaar die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt bewegt: „In welche Zwänge sind wir verwickelt? Wo finden wir uns in der Natur wieder?“ Diese Fragen werden anhand märchenähnlicher Geschichten, die mit einer Prise Kuriosität und Wehmut verwoben sind, den Abend über abgehandelt.
Die acht Helden der 10- bis 12-minütigen Sequenzen sind dabei zweifelsohne keine gewöhnlichen. „Die Charaktere sind atmosphärische Archetypen“, sagt Bille Behr. „Da gibt es zum Beispiel die Vogelfrau, deren größter Traum es ist zu fliegen. Mit allem, was sie hat, versucht sie diesen Traum zu verwirklichen – und stürzt doch immer wieder ab.“ Ein anderer Charakter ist der des Prinzen, der nicht König werden möchte und es doch nicht schafft, seiner Bestimmung zu entgehen: Die Krone ist durch ein Seil fest mit ihm verbunden.
Immer wieder gibt es auch komische Elemente, beispielsweise mit der Figur des Narren. Und dennoch ist es die Melancholie, die dem Stück als ein gemeinsamer Nenner den verschiedenen Helden einen Rahmen gibt: Die Tragik, die ihnen allen zueigen ist, liegt in der Wiederholung des immer gleichen Augenblicks ihrer Lebensgeschichte, aus dem sie nicht ausbrechen können.
„Begegnung bedarf keiner Berührung“
Die Schauspieler:innen bedienen sich bei der Vorstellung vielfältiger stilistischer Mittel: Neben Sprache und Tanz greifen sie auf Licht- und Rauminstallation zurück. Für die kreative Konzeption und Choreografie des Stücks ist Bille Behr verantwortlich, ihr Mann Stefan für das gesprochene Wort.
Das Theater Anu, 1998 in Hessen gegründet – seit 2007 hat die Compagnie ihren Hauptsitz in Berlin – bezeichnet sich als ein „Theater der Begegnung“, in dessen Stücken sich Besucher:innen und Schauspieler:innen auf behutsame Weise einander annähern.
Das ist auch in Coronazeiten möglich. „Eine Begegnung bedarf keiner Berührung, sie beginnt schon beim Blickkontakt“, erklärt Bille Behr. „Als Schauspieler hat man auf einer normalen Bühne kaum Möglichkeiten, mit den Zuschauern zu interagieren. Meist kann man die Gesichter kaum sehen, weil das Licht so blendet.“
Die Aufhebung der räumlichen und gedanklichen Trennung von Besucher:innen und Schauspieler:innen ist charakteristisch für die Inszenierungen des Theater Anu – ohne dass es dabei zu einem klassischen „Mitmachtheater“ wird. „Wir reichen den Besuchern im übertragenen Sinne die Hand, ob sie sie ergreifen, bleibt ihnen selbst überlassen“, sagt Bille Behr.
Kein lauter Abschlussapplaus
Das Stück ist schon lange im Repertoire des Theaters Anu. Sein Titel steht dabei für die „Lebensreise“ selbst. Das abendliche Tempelhofer Feld bietet ihm eine passende Kulisse: Nicht nur seine schiere Weite, auch seine Geschichte als ehemaliger Flughafen fügt sich inhaltlich in die Erzählung ein.
Bille Behr, Theater Anu
Verglichen mit 2015, als das Stück erstmalig auf dem Tempelhofer Feld inszeniert wurde, ist dieses Jahr der Ablauf coronabedingt etwas anders. „Normalerweise können sich die Besucher:innen frei im Labyrinth bewegen und die verschiedenen Aufführungen in unterschiedlicher Reihenfolge und beliebig oft erleben“, erläutert Bille Behr. Nun gebe es stattdessen einen „Theaterparcours“, bei dem die Laufrichtung vorgegeben ist, um zu jeder Zeit den vorgegebenen Sicherheitsabstand zu wahren.
„Wir glauben nicht, dass die Qualität der Vorstellung darunter leiden wird“, meint Bille Behr. Die Stücke des Theaters Anu leben von der Verschmelzung ihrer Geschichten mit dem jeweiligen Raum, ihre Spontaneität und Adaptivität tragen wesentlich zu ihrer Wirkungsstärke bei. Und auch die Besucher:innen bringen immer neue, individuelle Facetten ein. Den rein betrachtenden Zuschauer gibt es nicht: „Während des Stücks ist man immer aktiv“, so Behr, „man erläuft sich quasi diese poetische Welt, die wir inszenieren.“
Auf einen lauten Abschlussapplaus, wie man ihn für gewöhnlich aus dem Theater kennt, wird verzichtet. Das würde die kontemplativ-melancholische Atmosphäre wohl auch eher trüben. Dennoch: Traurig gestimmt soll niemand nach Hause gehen. „Letztendlich wird man nicht alleingelassen“, sagt Bille Behr. „Wir finden stets ein versöhnliches Ende.“
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