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„Verfolgung Homosexueller galt nicht als Unrecht“

40 Jahre hat es gedauert, bis Homosexuelle als NS-Opfer anerkannt wurden. Christian Till, Vorstand des Lübecker CSD, und Historiker Christian Rathmer über deren Verfolgung während des NS und darüber, wie die LSBTIQ*-Szene heute mit dem Coronavirus in Verbindung gebracht wird

Interview Friederike Grabitz

taz: Herr Till, wie wird in Lübeck Homosexueller gedacht, die von den Nazis verfolgt wurden?

Christian Till: Seit 2012 legen die Mitglieder unseres Vereins einen Kranz am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus nieder. Die Gedenkstätte erinnert an Lübecker Bürger, die wegen ihrer Rasse, Religion oder politischen Anschauung verfolgt wurden. Erst 2016 wurde das Gedenken an die homosexuellen Opfer ergänzt.

Und nun gibt es dazu auch ein Forschungsprojekt, Herr Rathmer?

Christian Rathmer: Ja, damit wollen wir den Opfern Namen, Gesichter und wieder ein Stück Würde zurückgeben.

Wie war der Stand der Forschung zu dem Thema in der Stadt?

Rathmer: Es gab sehr, sehr wenig. Graswurzel-Historiker wie Lutz van Dijk erforschen das Thema und es gab Laien, die selber unter Verfolgung gelitten hatten.

Auf welcher Grundlage wurden die Homosexuellen denn verfolgt?

Rathmer: Der Paragraf 175 stellte seit dem Kaiserreich den Beischlaf zwischen Gleichgeschlechtlichen unter Strafe. Die Nazis verschärften ihn so, dass jede Form gleichgeschlechtlicher Zuneigung unter Strafe stand. Dabei war nicht klar, was eine schwule Handlung ist, was Denunziationen Tür und Tor öffnete. Es wurden Menschen verhaftet, ohne dass etwas vorgefallen sein musste. Viele wurden gedemütigt, kastriert oder mussten Zwangsarbeit ableisten.

Was ist nach einer Verhaftung mit den Betroffenen passiert?

Rathmer: Zunächst blieben sie für eine unbestimmte Zeit in „Schutzhaft“. Je nachdem welchen Richter sie hatten, kamen sie nach ihrer Verurteilung zwischen zwei Monaten und zwei Jahren in Gefängnis- oder Zuchthaushaft. Wer zum dritten Mal verhaftet wurde, galt als Berufsverbrecher und kam in die Psychia­trie oder in ein Konzentrationslager. Dort hatten die Homosexuellen einen schweren Stand, weil sie innerhalb der Lagerhierarchie keine Lobby hatten. Sie waren allein und hatten dadurch sehr schlechte Chancen zu überleben.

Litten viele Homosexuelle unter der Verfolgung durch die Nazis?

Rathmer: In Hamburg wurden 1933 nach dem Paragraf 175 18 Menschen verhaftet, 1937 waren es dann 639 Menschen, von denen 604 auch verurteilt wurden. Nach den Reichsstatistiken gab es zwischen 1939 und 1944 in Hamburg knapp 900 verurteilte Männer, von denen 250 ins Konzentrationslager kamen. Jeder Zweite von ihnen starb dort.

Waren auch Frauen betroffen?

Rathmer: Grundsätzlich wurden sie auch verfolgt, aber es ist schwer zu greifen. In den Lagern gab es Frauen, die entsprechend gekennzeichnet waren, aber ich kenne keinen speziellen Fall.

In Lübeck wurden nach Ihren Recherchen 153 homosexuelle Männer vom NS-Regime verfolgt. Wie kamen Sie an Informationen?

Rathmer: Im Stadtarchiv Lübeck hat die Polizei alle Unterlagen dazu vernichtet. Fündig wurde ich im Landesarchiv Schleswig, wo die Akten des Landgerichtes und der Strafgefängnisse verwahrt werden. Auch im Staatsarchiv Hamburg gibt es Quellen, denn viele Lübecker wurden dort aufgegriffen oder verurteilt. Und ich war in Nordhessen, wo es im „Arolsen Archive“ die größte Sammlung von Aktenmaterial zur Verfolgung und den Konzentrationslagern gibt.

Wie verlässlich sind die Akten?

Rathmer: Es ist schwierig. Teilweise ist von der Polizeiakte bis zur Todesurkunde alles gut dokumentiert, zu anderen Fällen gibt es nur Hinweise. Von besser gestellten Opfern wie Kaufleuten wissen wir oft viel, weil die Angehörigen sich mit Anwälten für sie einsetzen konnten. Über eine unserer wichtigsten Quellen, den Kaufmann Friedrich Paul von Groszheim, wurden fast alle Unterlagen vernichtet.

Von ihm haben Sie Zeitzeugenberichte.

Christian RathmerJahrgang 1963, erforscht als freischaffender Historiker das Schicksal von Lübecker Homosexuellen im „3. Reich“.

Rathmer: Ohne Männer wie ihn gäbe es diese Forschung vielleicht gar nicht. Er schaffte es, sein Leid zu verarbeiten und das Schweigen zu brechen. Friedrich Paul von Groszheim hatte später in Hamburg eine glückliche Beziehung und ein erfülltes Leben. Er ist fast 100 Jahre alt geworden.

Kannten Sie ihn persönlich?

Till: Ich kenne Menschen, die ihn noch kennenlernen durften. Er war in Lübeck bei seinen Tanten aufgewachsen und hatte wahrscheinlich das Glück, in den Goldenen Zwanzigern als junger Erwachsener in Hamburg seine Homosexualität ausleben zu dürfen. Aber 1939 wurde er von der Lübecker Gestapo verhaftet und verhört. Weil er zustimmte, sich kastrieren zu lassen, kam er wieder frei. Es gab diese Kastrationen damals oft. Es waren also auch Ärzte und Gesundheitsämter am System beteiligt.

Trotz der Kastration wurde von Groszheim wieder verhaftet.

Till: Ja, insgesamt drei Mal. 1943 kam er als politischer Häftling in ein Außenlager des KZ Neuengamme, weil er Monarchist war, und kam vor Kriegsende wieder frei.

Hatte Friedrich Paul von Grosz­heim nach dem Krieg Probleme wegen seiner Homosexualität?

Rathmer: Ja, denn nach 1949 wurde in der BRD, anders als in der DDR, der Paragraf 175 nicht zurückgenommen. Erst ab 1969 waren gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht mehr direkt strafbar, sondern nur, wenn einer der Partner noch nicht volljährig war – und volljährig war man damals erst mit 21 Jahren. Die Polizisten und Juristen, die Homo­sexuelle 1935 verfolgt hatten, waren ja nach dem Krieg noch 20, 30 Jahre im Dienst. Erst seit 1994, dem Jahr der Abschaffung des Paragrafen 175, sind Homosexuelle gleichgestellt.

Die Gerichte haben damals argumentiert, dass diese Verurteilungen rechtmäßig waren, weil das gleiche Gesetz noch galt?

Till: Bis 1994 war die Verfolgung Homosexueller während des Nationalsozialismus nicht als Unrecht anerkannt. Groszheim zum Beispiel wurde nie rehabilitiert und hat auch keine Wiedergutmachung bekommen, weil er die Nachweise nicht führen konnte.

Wurde ihre Opfergeschichte deshalb erst so spät erforscht?

Rathmer: Ja, die systematische Aufarbeitung begann erst in den 1990er-Jahren, und bis heute wird wenig dazu geforscht. In Schleswig-Holstein kenne ich nur Björn Marnau in Itzehoe und Uli Poppe in Kiel, die sich mit diesen Schicksalen beschäftigt haben. Die am besten erforschte Opfergruppe ist die jüdische. Unter den 5.000 NS-Opfern in Lübeck waren etwa 200 jüdische BürgerInnen.

Im Gedenkbuch des Bundesarchivs zur Verfolgung der Juden heißt es, dass 257 Juden, die ihren Wohnort in Lübeck hatten, zwischen 1933 und 1945 deportiert und getötet wurden.

Rathmer: Die übrigen Opfer waren verschleppte ausländische Arbeitskräfte, psychisch Kranke oder Menschen, die nach einer Denunziation ins KZ kamen. Über die meisten wissen wir nicht viel. Wenn wir ein Schicksal recherchiert haben und einen Stolperstein für ein Opfer verlegen, ist es uns wichtig, dass wir dessen Leben erzählen, doch wir kategorisieren die Opfer nicht.

Christian TillJahrgang 1972, ist Vorstand des Lübecker CSD e.V. und Aktivist der LSBTIQ*-Community in der Hansestadt.

Gibt es eine Aufmerksamkeitskonkurrenz unter den Opfern?

Rathmer: Nein, jedenfalls sehen wir das nicht. Was wir möchten, ist die Anerkennung als Opfer. Manche fragen vielleicht: Warum bekommen die Homosexuellen jetzt eine besondere Aufmerksamkeit? Das Thema hat vorher einfach gar keine Öffentlichkeit gehabt, das wird nun nachgeholt.

Die Nazis haben auch Menschen als homosexuell bezeichnet, die es vielleicht gar nicht waren. Darf die Forschung den NS-Definitionen folgen?

Rathmer: Sie haben nicht ganz ohne Verdachtsmomente gearbeitet. Und auch bei jüdischen Opfern ist ja immer die Frage: war jemand Jude oder Jüdin, weil die Mutter jüdischer Herkunft war? Viele von ihnen waren Christen oder gar nicht religiös. Die Nazis haben auch neue Kategorien geschaffen wie die „mannstollen Weiber“, von denen viele gegen ihren Willen sterilisiert wurden.

Macht der Rechtsruck in der Gesellschaft Ihre Forschung aktuell?

Till: In queeren Nachrichtenportalen berichten Homosexuelle und Trans*menschen neuerdings wieder häufiger von Übergriffen. Das kann daran liegen, dass Gewalt tatsächlich zunimmt, oder auch, dass Opfer öfter den Mut haben, sie anzuzeigen. Das politische Treiben von Rechts ist nicht zu verharmlosen.

Welche Rolle spielt das Erstarken der AfD für die queeren Gruppen?

Till: Die AfD macht Homophobie und Ausgrenzung wieder salonfähig. Sie will beispielsweise in einem Bundesland alle Homosexuellen statistisch erfassen. Daran erkennt man, welch Geistes Kind die AfD ist. In der Coronakrise gibt es jetzt Stimmen von fundamentalen Christen, die sagen, das Virus sei Gottes Strafe für LSBTIQ*. Da wird man für Erdbeben, Vulkanausbrüche und Dürren verantwortlich gemacht.

Lübeck Pride: bis Sa, 15. August; Parade: Sa, 11 Uhr, Markt; Infos: www.luebeck-pride.de

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