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Im Osten geht’s voran

Im Ellener-Hof-Quartier baut der Martinsclub ein Wohnprojekt für Erwachsene mit Fetaler Alkohol-Spektrum-Störung (FASD). Die fallen sonst durch alle Raster

VonBenno Schirrmeister

Thomas Ph. guckt an die Decke, die es noch nicht gibt, kneift ein wenig die Augen zusammen wegen des diffusen Lichts und sagt: „Ich bin ja mal gespannt, wie das wird, wenn das noch eine Etage bekommt“. Weil „so richtig hoch ist das hier ja nicht“. Im ersten Stock nämlich wird sein Appartment liegen im Martins­club-Quartier auf dem Ellener Hof, das am gestrigen Dienstag Grundsteinlegung hatte.

Hier wird die erste Bremer Wohngruppe für erwachsene Menschen mit der Diagnose Fetale Alkohol-Spektrum-Störung enstehen, kurz: FASD. Und als er vor einem Jahr erstmals davon erfuhr, sei er gleich zu Thomas Bretschneider gegangen, sagt Thomas Ph., zum Martinsclub-Vorstand, „und der hat gesagt: Du bist der erste“.

Damit war die Sache geritzt. Noch ein Jahr ungefähr, Sommer 2021, und Thomas Ph. zieht weg aus Gröpelingen, wo er im Wohntraining ist, rüber in den Bremer Osten, nach Osterholz, aufs Ellener Feld. Dorthin, wo die Bremer Heimstiftung nach den Worten ihres Seniorvorstands Alexander Künzel der Stadt zeigt, „wie Zukunft geht“, nämlich divers und ökologisch, „und nicht auf Rendite getrimmt“.

Die Wege wirken verschlungen und organisch, „weil unser Architekt entschieden hat, dass die alten Bäume, die auf dem Gelände stehen, vorgeben, wie das, was hier wächst, zu planen ist“. Nichts soll hier wirken, als wäre es einfach aus dem Boden gestampft. Und die Reihen­haussiedlung nebenan und vis-à-vis die Plattenbauten aus den 1970ern bekommen vielleicht eine Art Herz und fangen an zu leben.

Thomas Ph. hat recht. Das Haus, das hier gebaut wird, ist die Reprise des alten Bauernhofs, der da bis vor zwei Jahren stand, gleich neben dem alten Friedhof. Stadtteilprägend, aber verrottet. Nicht zu retten und nicht vereinbar mit dem Anspruch energieeffizienter Architektur, der hier im zweitgrößten städtebaulichen Projekt Bremens Grundsatz ist, und auch nicht mit den sicherheitstechnischen Vorgaben für Wohnheime. Beides realisiert nun der Neubau mit traditionellen Materialien wie Ziegeln, auf dem Grundriss und in der Kubatur des Vorgängerhauses. Und mit dessen Fassade, die stehen geblieben ist, was der Grundsteinlegung auf dem frisch gegossenen Fundament ein wenig die Optik einer Abrissparty verschafft.

Ein diagnosespezifisches Wohnprojekt hört sich zunächst nicht nach toller Innovation an. Inklusion, hätte man gedacht, geht anders. Ist hier aber falsch. Von Spektrum-Störungen Betroffene haben, wie die designierte Heimleiterin Margarethe Jakubiec erklärt, „sehr spezifische Bedürfnisse“. Vor allem auch gegenläufige: Einerseits ein großes Verlangen nach Autonomie und Ruhe, andererseits aber auch oft Ängste, die sich nur im Gespräch besiegen lassen. Und sehr häufig ein Problem, das eigene Leben zu strukturieren. „Das ist so“, bestätigt Thomas Ph., „ich hab ’ne Arbeit, aber ich komm’zum Beispiel morgens nicht raus.“ Einschlafschwierigkeiten und Schlafstörungen sind häufig bei Menschen mit FASD. „Jetzt darf ich schon um zehn Uhr kommen“, sagt er, „aber ich schlaf halt gerne auch mal bis zehn.“

Klingt ja ganz vernünftig. Ist aber sozial keine akzeptierte Verhaltensweise. Und deswegen sind Rahmen nötig, die ein Projekt wie das vom Martins­club setzen kann. „Stationär sind die nicht richtig aufgehoben“, so Jakubiec, „aber ambulant ist es für sie zu locker.“ In Behindertenwerkstätten sind sie fehl am Platz. Auf dem ersten Arbeitsmarkt wird es superschwierig. Und, so informiert der bundesweit aktive FASD-Verein: Wo sonst Erziehung versucht, Selbstständigkeit zu erreichen, gilt im Umgang mit Betroffenen als primäres Ziel, dass sie ihre eigene Hilfsbedürftigkeit erkennen lernen.

80 Prozent der von FASD betroffenen Kinder werden weggegeben

Das Erscheinungsbild ist alles andere als einheitlich: „Der Begriff Spektrum zeigt das ja auch an“, sagt Jakubiec. „Es gibt Menschen mit FASD, die studieren, aber zu Hause sieht es aus wie in einer Messi-Wohnung.“ Bei anderen sind die kognitiven Fähigkeiten in Mitleidenschaft gezogen. Ursache ist immer Alkoholkonsum vor der Geburt. Und das macht es noch einmal schwierig. Denn die ohnehin komplexe Diagnose, die interdisziplinär erstellt wird, ist dadurch auch schambehaftet. In der Schwangerschaft Alkohol getrunken zu haben, ist so sozial geächtet wie sonst nur das Verweigern, einander zuzuprosten.

Dass Warnhinweise auf Etiketten noch immer keine Pflicht sind, zeigt an, wie zweideutig der gesellschaftliche Umgang mit dieser Lieblingsdroge ist. Aber auch die würden selbstredend nichts helfen, wenn die Schwangerschaft noch gar nicht bemerkt wurde. „Es reicht manchmal der eine Party-Vollrausch“, sagt Jakubiec.

Unberechenbar, anstrengend, peinlich: 80 Prozent der betroffenen Kinder werden weggegeben. Selten gibt es Wohnmöglichkeiten für erwachsene mit FASD in Deutschland. Und bis 2018 war die Bedarfsermittlung für sie nahezu unmöglich, weil das deutsche Rechtssystem nicht auf die Reihe brachte, geistige Fähigkeiten zu kategorisieren, die nicht allein mit den kognitiven Intelligenzleistungen gleichzusetzen sind. In der Stadt von morgen ist für sie jetzt schon mal ein Platz reserviert.

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