Aufstehen in Würde

Zehntausende kamen am Samstag zu einer der größten antirassistischen Demonstrationen in der Geschichte Berlins auf den Alexanderplatz. Getragen wurde der Protest von Jugendlichen of colour: Sie wollen sich nicht mehr gefallen lassen, dass der Staat sie bedroht, anstatt sie zu schützen

Demo gegen rassistische Polizeigewalt auf dem Alexanderplatz Foto: M. Golejewski/AdoraPress

Von Erik Peter

Es war kein gewöhnlicher Protest, der am Samstag den Alexanderplatz füllte: keine Kundgebung, von der nur die TeilnehmerInnenzahl und ihr politisches Anliegen bleibt, sondern ein Zusammenkommen, das vor allem Würde ausstrahlte. Berlins kommende Generation, so vielschichtig wie nie, vereint in dem Bewusstsein, es einmal besser zu machen. Der Alex war in diesen Stunden ein Ort der Zukunft, die Idee einer besseren Welt ohne Rassismus und Diskriminierung.

Es waren die 16- bis 25-Jährigen, die das Bild prägten. Sie gedachten im Schweigen und in aufbrausendem Beifall dem durch Polizisten ermordeten schwarzen US-Amerikaner George Floyd. Stundenlang, konzentriert, konfliktfrei. Sie forderten „Black Lives Matter“ und meinten damit vor allem auch sich und alle Umstehenden.

Viele der TeilnehmerInnen waren womöglich nie zuvor auf einer Demonstration, nicht für die Opfer des Anschlages von Hanau, nicht für die Aufklärung des Todes von Oury Jalloh. Doch das Bewusstsein über das Gift Rassismus innerhalb der Gesellschaft und ihrer staatlichen Institutionen tragen sie mit sich.

Es war eine der größten antirassistischen Demonstra­tio­nen der Geschichte Berlins. Schon zum eigentlichen Kundgebungsstart war der Alex so überfüllt, dass es nicht mehr vor noch zurück ging. Außen strömten weiter Tausende und verteilten sich vom Rotem Rathaus bis weit die Alexanderstraße hinauf. Hätten die OrganisatorInnen 100.000 Teilnehmende gemeldet, niemand hätte sich gewundert. Weil sie nichts sagten, blieben die 15.000 der Polizei, von den meisten Medien kritiklos übernommen – aber weit weg von der Realität.

Warum jetzt, kann man sich fragen: Warum wirkt ein Mord an einem schwarzen Mann so weit weg von hier so mobilisierend? Ganz einfach: Es spielt keine Rolle mehr, ob Halle oder Minneapolis, die sozialen Medien machen die Entfernung unsichtbar. Für heute 18-Jährige, für die die AfD und die mit ihr einhergehende rechte Gefahr zu ihrer Lebensrealität gehört, seit sie elf sind, ist es einfach eine neue Drohung. Eine zu viel, um weiter zu schweigen. Die gelebte kosmopolitische Realität der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist unendlich weit entfernt von den alten Kontinuitäten strukturell rassistischer Gesellschaften. Es gibt keinen Grund, das länger hinzunehmen.

Selbstverständlich muss man Angst haben angesichts so einer Massenveranstaltung zu Coronazeiten. Auch wenn die meisten ihre Masken trugen, der Mindestabstand war nicht einzuhalten. Das ist unverantwortlich, ja. Aber es ist auch Angst, die die Menschen dort hingezogen hat. Angst von jungen BerlinerInnen of colour, nicht dieselben Chancen im Leben zu haben wie ihre weißen FreundInnen. Angst vor rassistischer Polizeigewalt, vor Diskriminierung. Berechtigt und ernstzunehmen.

Brutale Fest-nahmen ließen jede Verhältnis-mäßigkeit und jede Rücksicht auf das Thema der Demo vermissen

Wie sehr, zeigte sich nach dem Ende der Veranstaltung. Gepanzerte Polizeieinheiten strömten durch diese so friedliche, sowohl ernste als auch lebensbejahende Menge und griffen Leute heraus. Brutale Festnahmen, nicht selten von schwarzen jungen Männern, die jede Verhältnismäßigkeit oder gar Rücksicht auf das Thema der Versammlung vermissen ließen. Wie anders hätte es sein können, dass sich Teilnehmende davon provoziert fühlten. Genau darum ging es doch. Um einen autoritären, rassistischen Staat, der seine BürgerInnen nicht schützt, sondern bedroht.

Legitimiert wurden die Polizeiübergriffe bereits vor Veranstaltungsbeginn durch einen Tweet der Deutschen Polizeigewerkschaft Berlin, in dem von der „Aggressivität der Berufsempörer & gewaltbereiten Krawallmacher“ die Rede war. Es ist unter anderem diese Verachtung, geäußert durch eine Lobbyorganisation der Polizei, geführt von einem ehemaligen Mitglied der Republikaner, die zeigt, warum diese Demonstrationen weitergehen müssen. So lange, bis solche Menschen in dieser Gesellschaft nichts mehr zu sagen haben und derartige Strukturen überwunden sind. Black Lives Matter!

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