Alles anders als gedacht

Kinder- und Jugendbuch im Frühjahr: Eine turbulente Bildgeschichte über neue Freunde und über Väter im Homeoffice, Julian Volojs Graphic Novel über eine historische Fußballlegende, coole Pflegeeltern in „Home Girl“ von Alex Wheatle

„Der Pinguin will immer nur fernsehen“ – Ausschnitt aus „Seepferdchen sind ausverkauft“ Foto: Abbildung: Moritz Verlag

Von Eva-Christina Meier

Nun, da viele Kinder, statt in die Kita zu gehen, ihre Eltern bei der Arbeit zu Hause erleben, scheint die erfrischend anarchistische Bilderbuchgeschichte „Seepferdchen sind ausverkauft“ von Katja Gehrmann und Constanze Spengler fast ein aktueller Kommentar zu Home­office und Co zu sein.

Mika lebt in einer Wohnung mit seinem Vater, einem zerstreuten Tüftler mit wirrem Haar. Es ist Sommer, und der Junge hat den Schwimmring für den Ausflug an den Badesee schon aufgeblasen. Doch Papa will erst noch eine wichtige Sache am Computer beenden. Wie lange das dauert, kann er nicht sagen.

Für diese von dem Autorin­nenduo gemeinsam entwickelte Erzählung hat Katja Gehr­mann ausdrucksstarke, unprätentiöse Bilder gefunden, die im Zusammenspiel mit der Textebene eine fesselnde Dynamik entwickeln.

Damit sein Vater endlich in Ruhe arbeiten kann, darf Mika schließlich allein in der Zoohandlung ein Haustier aussuchen, eine Rennmaus. Im Wohnzimmer baut er ihr sofort einen aufwendigen Parcours, doch am Ende des Nachmittags ist die Maus verschwunden. Kein Problem, wieder geht Mika mit der roten Geldbörse des Vaters zum Tierhändler und kommt mit einem niedlichen Welpen zurück. Dank seiner ausgezeichneten Spürnase findet der Vierbeiner die Maus sofort. Doch der junge Hund pinkelt ins Badezimmer.

Katja Gehrmann (Illustration) und Constanze Spengler (Text): „Seepferdchen sind ausverkauft“. Moritz Verlag, Frank­furt/Main 2020. Gebunden, 48 Seiten, 14 Euro. Ab 5 Jahren

Um das Kloproblem zu lösen, bringt Mika also einen Seehund nach Hause. Aber wer kann der wasserscheuen Maus beim Plantschen in der Badewanne Schwimmunterricht erteilen? Die Seepferdchen sind ausverkauft. Ein Brillenpinguin übernimmt die Aufgabe, obwohl der am liebsten vorm Fernseher sitzt und Tierfilme guckt. Langsam wird es eng auf dem Sofa.

Viel passiert auf den mit dem Pinsel locker kolorierten und nachträglich mit kräftigem Strich konturierten Il­lus­tra­tio­­nen. Während Mika für jedes Problem schnell ein weiteres Haustier findet, scheinen dem in die Arbeit versunkenen Vater die neuen Mitbewohner sowie ihre wilden Unternehmungen tagelang zu entgehen. Daraus ergeben sich in der fesselnden Erzählung viele komische Momente, die den besonderen Reiz des Bilderbuchs ausmachen.

***

Während die Wiederöffnung der Schulen bereits langsam anläuft, dauert es mit der Rückkehr zum wöchentlichem Fußballtraining und dem Wiedereinstieg in die Bezirks-, Landes- oder Verbandsligaspiele noch ein bisschen. Für viele fußballbegeisterte Kinder und Jugendliche klingt das mehr als ungerecht, und der Totalausfall ist kaum auszuhalten. In der anhaltenden Zwangspause könnte die im Frühjahrsprogramm erschienene Graphic Novel „Ein Leben für den Fußball“ ein passender Lesestoff und eine willkommene Ablenkung sein.

In lebendigen Szenen erzählt Julian Voloj darin die Geschichte von Oskar Rohr, einem der ersten Profifußballer in Deutschland. Dessen interna­tio­nale Karriere nahm nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 und mit Beginn des Zweiten Weltkriegs ein jähes Ende. Marcin Podolec zeichnete für den Comic den Aufstieg des 1912 in Mannheim geborenen Fußballtalents in dynamischen Bildern. Überzeugend fängt der polnische Illustrator nicht nur die Begeisterung rund um den Ball ein, sondern skizziert mit erdigen Farbtönen den historischen Hintergrund der Biografie Rohrs.

Langsam wird es eng auf dem Sofa

Ab 1928 trainiert der junge Fußballer bei Richard Kohn alias Richard Dombi. Der erkennt sein Talent, und gemeinsam wechseln sie bald zum ehrgeizigen FC Bayern München. Dort treffen sie auf Kurt ­Landauer, Otto Beer und Walther Bensemann – frühe Prota­go­nis­ten des Profifußballs in Deutschland. Die werden nach der Reichspogromnacht 1938 als Juden verfolgt, verhaftet oder ermordet.

Dombi wechselte bereits 1933 als Trainer zum Grass­hopper Club Zürich in die Schweiz. Auch Bensemann, der Gründer der Zeitschrift ­Kicker, musste Deutschland 1933 verlassen. Dem Vereinspräsidenten ­Lan­­dauer gelang es, nach einmonatiger Haft im KZ Dachau 1939 in die Schweiz zu emigrieren. Otto Beer, Jugendtrainer vom FC Bayern, wurde 1941 von den Nazis nach Litauen deportiert und ermordet. Zusätzliche Hinweise im Anhang der Erzählung geben Informationen zu den Biografien.

Autor Julian Voloj, der 2018 zusammen mit Thomas Campi die viel beachtete Graphic Novel über den vergessenen ­Superman-Erfinder Joe ­Shuster veröffentlichte, erinnert in „Ein Leben für den Fußball“ nicht nur an die frühen Jahre des Fußballs, sondern auch an jene nach 1945 fast vergessenen Persönlichkeiten, die ihn in Deutschland maßgeblich prägten. So wird am Lebensweg des politisch uninteressierten Oskar Rohr ebenfalls allzu deutlich, dass in Zeiten von Unrecht und Willkür auch der Fußball seine Unschuld verliert.

***

Julian Voloj (Text) und Marcin Podolec (Illustration): „Ein Leben für den Fußball. Die Geschichte von Oskar Rohr“. Carlsen Verlag, Hamburg 2020. Gebunden, 160 Seiten, 22 Euro. Ab 11 Jahren

Naomi Brisset ist ein Fall für die Jugendfürsorge. Ihre Mutter hat Suizid begangen. Der Vater ist Alkoholiker. Betreut von ihrer Sozialarbeiterin Louise pendelt die Vierzehnjährige immer wieder zwischen Heimaufenthalten und Pflegefamilien. Nun soll das Mädchen übergangsweise bei den Goldings, einer schwarzen Familie, untergebracht werden.

In seinem gerade veröffentlichten Roman „Home Girl“ schildert der britische Schriftsteller Alex Wheatle die emo­tio­nalen Achterbahnfahrten des elternlosen Teenagers und die Verwerfungen eines bürokratischen Sozialsystems. Ebenso wie ihre Freundinnen Kim und Nati aus dem Heim ist Naomi niemals um einen Spruch verlegen.

Großzügig teilen die drei aus, wenn es ihren Platz zu ­behaupten und damit andere auf Abstand zu halten gilt. Doch scheinen hinter Naomis vehementen Forderungen, den pa­ranoi­den Anschuldigungen und ihrer offensiven Abgeklärtheit immer wieder Traumatisierung und Empfindsamkeit durch.

Alex Wheatle: „Home Girl“. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Verlag Antje Kunstmann, München 2020. Gebunden, 280 Seiten, 18 Euro. Ab 14 Jahren

Coleen und Tony Golding haben bereits zwei Pflegekinder, Sharyna und Pablo. Mit versteckter Neugier verfolgt Naomi die ungewohnt verbindlichen Umgangsformen der Familie. Sie kann kaum glauben, dass ihre Pflegemutter als Teenager in dem als Gangstaviertel verrufenen Crongton aufgewachsen sein soll.

Ebenfalls mit großem Interesse belauscht sie danach einen Streit zwischen Tony und seinem Vater, in dem der alte Mann dem Sohn Vorwürfe macht, ein weißes Pflegekind aufgenommen zu haben. Auch das Jugendamt ist scheinbar nicht begeistert von dem Arrangement mit den Goldings, und Louise sucht weiter nach einer „passenderen“ Pflegefamilie für Naomi.

Schon in seiner viel beachteten Crongton-Trilogie beschrieb Alex Wheatle sprachlich überzeugend die Lebensrealität abgehängter Jugendlicher in einem fiktiven Londoner Vorort. In „Home Girl“ kümmert sich dagegen die staatliche Jugendfürsorge um Naomi. Sie hat überall ein eigenes Zimmer, oft sogar mit Fernseher. Sie ist satt und sauber. Ein Zuhause aber bekommt sie nicht.