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„Wir brauchen verbindliche Hygienestandards“

Henning Kullak-Ublick, Sprecher des Bundes der Freien Waldorfschulen, will den schrittweisen Wiedereinstieg in den Unterricht, auch wenn er einräumt, dass kleinere Kinder Hygieneregeln schlecht einhalten können

Henning Kullak-Ublick64, Grünen-Gründungsmitglied, studierte Landwirtschaft und Waldorfpädagogik, ist seit 2010 Sprecher des Bundes der Freien Waldorfschulen.

Interview Petra Schellen

taz: Herr Kullak-Ublick, wie organisieren Waldorfschulen den Unterricht in Coronazeiten?

Henning Kullak-Ublick: Da haben wir alle eine große Lernkurve hinter uns. Für Waldorfschulen funktioniert Lernen ja nicht nur über den Kopf, sondern genauso über Bewegung, über empathische Begegnung mit der Welt und durch eigene Tätigkeit. Da ist es eine unglaubliche Reduktion, wenn man nur über digitale Medien mit den Kindern kommunizieren kann. Das ist ein Balance-Akt, der an die Lehrkräfte hohe Anforderungen stellt, damit sie das richtige Maß finden.

Und das wäre?

Das hängt ab vom Alter und vom Thema, aber auch davon, ob zu Hause Geräte vorhanden sind. Es geht darum, die Kinder zum selbstständigen Entdecken und Arbeiten anzuregen, damit sie echte Erfahrungen mit dem, was sie zur Verfügung haben, machen können.

Welche Aufgaben stellen Sie Grundschulkindern?

Sie können singen, kleine Gedichte rezitieren, mit Händen und Füßen Rhythmen üben. Sie können zeichnen, Rechenrätsel lösen, stricken, ein In­strument spielen, Aufsätze verfassen, Beete anlegen, Insekten beobachten oder einfach: spielen!

Da müssen die Eltern massiv die Lehrer ersetzen.

Für viele Eltern ist das eine zusätzliche Belastung, von der sie sich überfordert fühlen. Aber es geht überhaupt nicht um eine Schulersatz-Pflicht, sondern um das Sich-die-Welt-Erschließen, das sowieso auch zu Hause passieren sollte. Das ist auch eine Chance, sich mal ganz anders zu begegnen.

Und welche Online-Aufgaben bekommen ältere SchülerInnen?

Viele LehrerInnen bieten in der Oberstufe Software-gestützten Online-Unterricht an. Andere stellen per E-Mail Aufgaben, für die die SchülerInnen dann eine Woche Zeit haben, bevor sie zurückgesandt werden. Auch hier geht es stets darum, dass die SchülerInnen angeregt werden, selbst etwas rauszukriegen.

Wie steht es um das Waldorffach Eurythmie?

Eurythmie ist eine gemeinsame Bewegungskunst, die, wie auch der für uns sehr wichtige handwerkliche Unterricht – also Gartenbau, Tischlern, Schmieden usw. –, leider ausfallen muss.

Widerspricht Online-Unterricht eigentlich nicht der Waldorf-Idee?

Nein, gar nicht, wenn man sich bewusst macht, dass er nur eine sehr spezifische Art der Weltbegegnung ermöglicht. Diese Einseitigkeit muss man durch intelligente Aufgabenstellungen ausgleichen. Aber es ist auch eine interessante Erfahrung, denn Technologie-Unterricht gehört zum Kernprofil der Waldorfpädagogik. Das beginnt schon mit dem handwerklichen Unterricht, in dem die Kinder haptische, praktische Intelligenz einüben, und es gilt genauso für neue Technologien. Man kann sehr gut erst eine Dampfmaschine, später einen Transistor oder Schaltkreise bauen, um zu begreifen, wie Technik funktioniert, und später Programmiersprachen lernen, um das noch tiefer zu durchschauen. Ich würde sogar behaupten, dass die Waldorfschulen bei der Entwicklung ganzheitlicher pädagogischer Ansätze zum Erwerb echter Medienmündigkeit Pionierarbeit leisten.

Sollte ein Waldorf-Erstklässler ein Smartphone haben?

Idealerweise nicht, weil die Schule einer der wenigen verbliebenen Orte ist, wo die Kinder sich über viele Stunden unmittelbar mit allen ihren Sinnen mit der Welt auseinandersetzen können. Den Kindern diese für das ganze Leben wichtigen Erfahrungen vorzuenthalten, ist aber einfach dumm, und grausam außerdem.

Welches ist Ihre Maxime?

Man muss gucken, was die Kinder gerade brauchen. Natürlich muss man sich mit Fünftklässlern über die sozialen Medien unterhalten. Man kann auch mit Kindern sehr gut üben, darauf zu achten, ob ein Referat nur Halbwissen aus dem Internet zitiert – oder ob jemand das mit eigenen Worten und eigenen Imaginationen verfasst hat. Die Kinder merken schnell, wie leblos und standardisiert das Wikipedia-„Fertigprodukt“ im Vergleich ist.

Und wie bringen Sie Ihren SchülerInnen bei, Fake News zu erkennen?

Sie sollen recherchieren und mehrere Quellen nutzen, wie ein Journalist. Schon DrittklässlerInnen können sich von den Büchern erzählen, die sie gerade lesen. Ein sicheres Sprachgefühl für Echt oder Fake kann man nur übend erwerben, aber man kann durch eigene Videoclips, Radio-Features und solche Dinge sehr gut herausfinden, wie Manipulation funktioniert. Sensibilisieren und selber denken!

Apropos Facebook: Finden alle Waldorf-Eltern den Digital-Unterricht gut?

Nicht alle. Einige weigern sich aus prinzipiellen oder aus Datenschutzgründen, ihre Kinder an Zoom-Konferenzen teilnehmen zu lassen. Andere können sich aus finanziellen Gründen keinen guten Computer leisten. Aber meistens helfen sich die Familien untereinander.

Welche Hygienemaßnahmen werden gelten, wenn Ihre Schulen wieder öffnen?

Für kleine Kinder ist es unglaublich schwierig, Abstandsregeln einzuhalten. Trotzdem müssen die Kinder sich sehr bald wieder begegnen können. Wir brauchen natürlich verbindliche Hygienestandards, aber die müssen vor Ort so umgesetzt werden, wie es dort geht. Ich finde es schon schräg, dass der Tourismus wieder angefahren wird, aber kleine Kinder nicht in ihre Kitas oder Schulen dürfen.

Haben die Waldorfschulen genug Personal, um in zwei Schichten zu unterrichten?

Das wird, wie überall, schwierig, aber nicht unmöglich. Wir haben zurzeit ungefähr 1.000 Studierende in unseren Hochschulen und Seminaren, von denen sicher viele übergangsweise einspringen könnten, vielleicht bei Tätigkeiten, die die übrigen Lehrkräfte entlasten.

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