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In der Corona-Krise halten die Beschäftigten in Krankenhäusern, Supermärkten, in Praxen oder Notunterkünften das System am Laufen. Für ihren Job gehen viele ein persönliches Risiko ein

Foto: A. Crinari/dpa

„Von Tag zu Tag das Richtige tun“

Pamela Perona, 49, ist Ärztin für Allgemein- und Reisemedizin in Bamberg

taz am wochenende: Frau Perona, gerade haben Sie Sprechstunde. Was ist bei Ihnen los?

Pamela Perona: Ich habe meine Sprechstunde aufgeteilt. Von 8.30 bis 10 Uhr behandle ich Pa­tien­ten, die nichts mit Corona zu tun und wichtige und akute Anliegen haben. Einige von ihnen sitzen jetzt noch im Wartezimmer. An Nachmittagen nehme ich Corona-Abstriche, das tue ich aber draußen im Hof.

Im Hof?

Wir haben einen Hinterhof mit einem Parkplatz für ein Auto. Die Leute kommen im Viertelstundentakt, damit sie nicht aufeinandertreffen. Sie klingeln. Dann werfen wir uns oben in die Montur, also die Schutzkleidung, ich nehme den Abstrich an der Tür. Anschließend werden Türe und Klingel desinfiziert. Zurzeit sind es vielleicht zehn bis fünfzehn Abstriche pro Tag, das ist überschaubar. Außerdem habe ich sogenannte Pandemiedienste übernommen, das heißt, ich fahre für Abstriche auch zu Menschen nach Hause.

Sie arbeiten deutlich mehr als sonst.

Ja, normalerweise arbeite ich etwa 40 Stunden, zurzeit sind es eher 60.

Als Ärztin sind Sie zurzeit besonders „systemrelevant“. Wie fühlt sich das an?

Ganz ehrlich: Auch nicht wesentlich anders als sonst. Als Ärztin hat man immer Verantwortung. Ich war immer bereit, dort zu arbeiten, wo Ärzte wirklich gebraucht werden, dafür habe ich ja Medizin studiert. Zurzeit habe ich vor allem Sorge um meine älteren Patienten und jene mit chronischen Erkrankungen.

Um sich sorgen Sie sich nicht?

Nein. Ich habe lange am Tropeninstitut München gearbeitet und komme somit aus der Infektiologie, da kann man keine großen Infektionsängste haben. Ich finde es auch schwierig, wenn sich manche Ärzte jetzt nicht einbringen wollen. Ein Pilot kann auch nicht sagen: Es ist schlechtes Wetter, ich fliege nicht. Wenn ich meine zwei Kinder in Gefahr wüsste, würde mich das sicherlich aus der Ruhe bringen. Aber das Virus ist für Jüngere nicht gefährlicher als viele andere Keime, die uns umgeben. So geht es darum: Wie können wir dafür sorgen, dass das System nicht kollabiert, dass die vulnerablen Patienten geschützt sind? Ich passe natürlich auf, weil ich kein Verteiler sein will, deshalb bin ich genau.

Was tun Sie?

Ich achte auf die Schutzkleidung, die Hygienemaßnahmen. Ich finde auch, alle Menschen in den systemrelevanten Berufen sollten regelmäßig abgestrichen werden, damit sie das Virus nicht weitergeben. Auch Hausärzte müssten strikt Masken tragen.

Das machen sie bislang nicht?

Es ist im Moment noch sehr viel Unsicherheit da, vor allem bei niedergelassenen Ärzten. Klare Vorgaben wären hilfreich. Sehr viele Kollegen und Hilfskräfte sind sehr engagiert, das ist toll. Aber das übergeordnete System ist träge.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Anfangs war vorgesehen, dass die Ärzte für Abstriche zu den Menschen nach Hause kommen. Ich bin für einen körperlich fitten Patienten über anderthalb Stunden im Auto unterwegs gewesen, dabei hätte der auch selbst fahren können. In der Zeit hätte ich sehr viele Menschen abstreichen können. Ich bin ja zu allem willig und bereit. Man kann mich irgendwo hinstellen und ich mache es. Aber es soll sinnvoll sein. Die Ressourcen werden im Moment nicht vernünftig eingesetzt. Wir fahren immer noch Menschen ab, die sehr wohl selbst kommen könnten.

Sie testen jetzt auch in Nürnberg an einem neuen Drive-in-Testzentrum.

Gestern war ich zum ersten Mal dort. Ich hätte viele der Menschen nicht abgestrichen, die da so kamen, im SUV, mit Maske, Spülhandschuhen und leichtem Reizhusten. Aber ich entscheide nicht, wer getestet wird, das macht inzwischen oft jemand von der Kassenärztlichen Vereinigung am Telefon. Wenn jeder abgestrichen wird, gibt es wahrscheinlich nicht genug Röhrchen und Laborkapazitäten. Ich hielte es für richtig, nur die Multiplikatoren und sehr kranken Menschen zu testen. Die Vorgaben, bei wem ein Abstrich gemacht wird, erscheinen mir im Moment sehr willkürlich.

Was meinen Sie, wie geht es weiter?

Ich bemühe mich keine Prognosen abzugeben, sondern versuche, von Tag zu Tag das Richtige zu tun. Interview: Antje Lang-Lendorff

„Keiner meckert, alle sind motiviert“

Ingeborg Vries*, 50, arbeitet als Anästhesie-Schwester in einem Berliner Klinikum

„Wir fahren zurzeit sämtliche OP-Termine runter, um Platz auf den Intensivstationen zu schaffen. Alle Operationen, die nicht wirklich nötig sind, werden abgesagt oder verschoben. Dringende Krebs-Operationen durchaus. Zwei Intensivbetten halten wir dauerhaft frei für Notfälle. Es wird also wirklich ernst, wie ernst, werden wir sehen. Im Moment haben wir Extra-Schulungen für den Umgang mit den Beatmungsgeräten, wenn es losgeht, muss ich auf die Intensivstation.

Angst habe ich keine, aber ich habe Respekt vor diesem Virus. Und ich glaube, dass die Maßnahmen noch immer nicht ausreichen: Wir haben zum Beispiel längst ein Besuchsverbot in der Klinik, es kommt niemand mehr rein außer Personal mit Ausweis. Aber stattdessen treffen sich dann Patienten und Besucher draußen. Unten auf dem Rasen stehen sie, das kann man vom Fenster aus sehen. Ich verstehe auch nicht, warum die Maßnahmen so spät kommen: Am Potsdamer Platz sitzen alle in den Cafés draußen. Zu meinen Nachbarn habe ich gestern Abend gesagt: Sie müssen nicht jeden Tag einkaufen gehen! Es reicht doch einmal die Woche.

Wie ich es finde, dass jetzt über unser Gehalt diskutiert wird? Also: Das Gefühl, dass wir schlecht bezahlt werden, benutzt werden, das ist schon immer da. Da brauche ich keine Corona-Krise. Und es wird auch nicht besser werden. Wenn das vorbei ist, werden sie genau so weitermachen, wie immer. Es geht immer ums Geld. Ich bin jetzt 50 und zu alt für eine Umschulung. Wir machen ja auch weiter: Keiner meckert, alle sind motiviert, zu tun, was zu tun ist. Und ich persönlich wünsche mir einfach nur, dass meiner Mutter nichts passiert und wir da alle heil rauskommen.“

Protokoll: Martin Reichert

*Name geändert

„Der Rückhalt spendet Kraft“

Simone Marks, 41, ist Sozialarbeiterin an einer Grundschule in Dortmund

„Als wir von den Schulschließungen erfahren haben, war es Freitagnachmittag. Da blieb keine Zeit mehr, noch irgendetwas zu organisieren. Aber wir haben schnell umgeschaltet. Heute betreuen wir nur noch die Kinder der sogenannten Schlüsselpersonen wie Ärzte, alle anderen Kinder dürfen wir nicht mehr betreuen.

Bis 11.30 Uhr übernehmen die Lehrer der Grundschule die Notbetreuung, danach sind wir an der Reihe. An manchen Tagen kommen zwei, an anderen vier Kinder. Nicht alle Eltern, die Anspruch hätten, nutzen unser Angebot, auch sie wollen ihren Beitrag leisten. Wir teilen die Betreuung in unserem Team auf, nur die beiden Kolleginnen, die über 60 Jahre alt sind, bleiben jetzt zu Hause.

Wir sind ein tolles Team, das auch herzlich miteinander umgeht, sich mal drückt und in den Arm nimmt. Darauf plötzlich zu verzichten, ist wahnsinnig schwierig, es dauert, da umzuschalten. Besonders im Umgang mit Kindern ist es nicht einfach. Kinder sind impulsiv und wollen Körperkontakt, dann springen sie einem auch einfach mal in die Arme. Und es ist Bestandteil unserer Arbeit, zu trösten und Nähe zu spenden. Gerade in Zeiten wie diesen, da auch die Kinder verunsichert sind und sich Zuneigung wünschen. Wir erklären ihnen dann, dass wir nicht wollen, dass das Virus von uns auf sie rüberspringt und umgekehrt. Das verstehen sie.

Und trotzdem ist es natürlich schwierig, beim Spielen immer die Zwei-Meter-Abstand-Regel einzuhalten. Wir versuchen, ihnen Alternativen zu bieten, basteln viel, singen, spielen Gitarre und lesen ihnen neuerdings „Harry Potter“ vor.

Ich beobachte in den sozialen Medien, wie viel Anerkennung unsere Arbeit plötzlich erfährt, und finde das ganz großartig. Das macht richtig was mit mir. Die ganze Situation ist emotional ja für niemanden einfach, aber dieser Rückhalt spendet Kraft. Da geht ein Ruck durch die Gesellschaft, das spüre ich.“ Protokoll: Hanna Voß

„Wir halten die Ängste aus“

Petra Schimmel, 61, leitet die Telefonseelsorge in Hamm

„Bei uns rufen Menschen an, die einsam sind, Depressionen oder Ängste haben. Das Coronavirus verstärkt die Themen dieser Menschen. Wenn wir die Anruferzahlen dieser Woche mit denen einer durchschnittlichen Woche aus Februar oder Januar 2020 vergleichen, haben wir 50 Prozent mehr Anrufe. Es sind ältere Menschen dabei, aber auch jüngere und aus allen Berufsgruppen. Normalerweise ist nur eine Person am Telefon und eine im Chat. Jetzt haben wir deutlich aufgestockt.

Wir tun, was wir immer tun: Wir sind da, und das verstärkt. Wir hören zu, wir halten die Ängste aus. Und wir fragen: Was ist die Angst eigentlich? Was steckt dahinter? Für mich geht es darum, das richtige Maß für alles zu finden. Wer jetzt zu Hause sitzt, einsam ist und den ganzen Tag nur Fernsehen schaut, dem versuche ich zu sagen, dass das zu viel ist und nur Angst und Not verstärkt. Manchmal schweige ich auch mit den Anrufenden. Mit anderen versuche ich eine Tagesstruktur zu entwerfen.

Für mich ist die Corona-Lage auch eine Chance, dass wir merken: Wie viel brauchen wir eigentlich, um zu leben? Was bedeutet diese Lage für uns? Und wie gut ist es, auch mal in Stille zu sein? Viele der Anrufenden können mit Stille und Einsamkeit gar nicht umgehen.

Wahr ist auch: Viele Menschen, die bei uns arbeiten, gehören zur Risikogruppe. Die meisten sind über 55 Jahre alt. Alle arbeiten im Einzelbüro, für die Übergaben haben wir Regeln gefunden, um Abstand zu halten und uns vor einer Ansteckung zu schützen.

Im Homeoffice zu arbeiten ist für uns nicht so einfach. Wer bei uns arbeitet, schlüpft in eine Rolle, ist Beraterin. Zu Hause ist es viel schwieriger, diese Rolle dann wieder abzustreifen. Wir haben Supervisionsgruppen für alle Mitarbeitenden, um Themen aus dem Chat oder aus den Telefongesprächen zu besprechen. Diese Gespräche können wir online oder über Telefon machen.

Angst kann man nicht verbieten. Aber es ist gut, alles dafür zu tun, dass die Angst uns nicht beherrscht. Eine gute Möglichkeit ist es, miteinander zu reden.“

Protokoll: Tanja Tricarico

„Unsere Schutzbrillen dichten nicht ab“

Hannah H., 26, ist Intensiv-Krankenschwester bei einer Leasingfirma in Berlin

„Ich arbeite als Intensiv-Krankenschwester in einem Zeitarbeitsbetrieb, der uns an die Berliner Intensivstation verleiht, die gerade am dringendsten Schwestern und Pfleger braucht. Wir Leasing-Leute sind vor den grenzwertigen Arbeitsbedingungen im Krankenhaussystem geflohen, zumindest verdienen wir gut.

Schon ohne Corona-Fälle ist die Arbeit auf Intensiv fast nicht zu bewerkstelligen, jetzt sollen wir ohne zusätzliches Personal die zusätzlichen Corona-Patienten versorgen. Auch wenn jetzt mehr Intensivbetten angeschafft werden – am Personal wird es mangeln.

Gesundheitsminister Spahn strebt einen Pflegeschlüssel von einer Pflegekraft zu zwei Patienten an. Wir betreuen aber gerade eins zu vier Patienten. Darunter sind schwerste Fälle, die jede halbe Stunde zu reanimieren sind. Die Schwester, die jetzt für den abgeschotteten Corona-Bereich zuständig sein soll, fehlt bei der übrigen Arbeit. Wenn die Schichtleitung bei den Corona-Patienten war, kann sie bei anderen nicht mit ­reanimieren. Die Übertragungsgefahr ist zu groß – die ist aber auch im Team gegeben, weil man nie weiß, wer infiziert ist.

Patienten kommen bei uns fraglich instabil an und werden abgestrichen. Der Test dauert aber 12 bis 24 Stunden, weil die Labore überlastet sind. Es ist auch keine passende Schutzkleidung da. Die Schutzbrillen, die wir haben, dichten nicht komplett bis unter den Mundschutz ab. Wir haben den Chefarzt gefragt, wie wir das in der kommenden Zeit bewerkstelligen sollen, er meinte darauf: ‚Ihr könnt mich steinigen, aber wir müssen jetzt halt alle den Gürtel enger schnallen.‘

Alle auf der Station reden sich im Moment den Mund fusslig. Die Schwestern kommen zum Dienst und leisten, was sie schaffen. Jeder, der kann, muss jetzt helfen, muss ans Bett. Einige haben ihren Urlaub abgesagt. Noch gibt es nicht so viele schwerkranke Corona-Infizierte, aber wir sind nicht gerüstet. Mal schauen, was in zehn Tagen ist. Wir Schwestern arbeiten immer schon am Limit, jetzt wird auf uns geschaut. Ich hoffe, dass sich jetzt auch was bewegt.“

Protokoll: Stefan Hunglinger

„Abstand halten geht bei uns nicht“

Paul Hierse, 32, ist Altenpfleger in Falkensee, Brandenburg

„Ich arbeite in der Tagespflege. Das heißt: Die pflegebedürftigen Menschen sind tagsüber bei uns. Wir holen sie zu Hause ab, betreuen sie, essen zusammen, wir bringen sie am Nachmittag nach Hause. Das entlastet die Angehörigen. Wir haben 16 Plätze und sind voll belegt. Insgesamt 45 Gäste kommen im Laufe der Woche zu uns, manche die ganze Woche, manche nur einzelne Tage.

Jetzt nicht mehr: Seit Mittwoch ist unser Haus geschlossen. Wir sind eine zu große Gruppe, das Ansteckungsrisiko wäre zu hoch.

Die Gäste und ihre Angehörigen haben verständnisvoll auf die Schließung reagiert. Wir bieten ihnen an, sie zu Hause zu besuchen. Besonders zu denen, die keine Familie haben, halten wir engen Kontakt. Gleich fahre ich noch für ein bis zwei Stunden zu einer Frau mit Demenzerkrankung, die von ihrem Mann versorgt wird. Sie ist sonst fünf Tage die Woche bei uns. Menschen mit Demenz zu erklären, warum sie nicht mehr kommen können, ist schwer. Ich weiß nicht, wie sie reagieren, wenn die eingespielte Routine wegfällt.

Durch die Schließung habe ich erst mal weniger Arbeit, ich konnte mich heute sogar im Garten um die Blumen kümmern. Aber das kann sich schnell ändern. Zu unserer Niederlassung gehört auch ein ambulanter Pflegedienst, wir versorgen rund 120 Menschen zu Hause. Noch sind wir in der glücklichen Lage, dass keine der Pflegekräfte krank wurde. Aber das ist eine Frage der Zeit. Wenn Sie Menschen pflegen, sie waschen, sie medizinisch versorgen, können Sie nicht 1,50 Meter Sicherheitsabstand halten. Wenn jemand ausfällt, springe ich ein.

Sollten wir Pflegebedürftige nicht mehr versorgen können, weil sie sich zum Beispiel selbst mit Corona infiziert haben, müssten das die Angehörigen übernehmen. Menschen ohne Familie müssten wir ins Krankenhaus einliefern lassen.

Ich bin stellvertretender Leiter der Tagespflege. Die Schließung des Hauses ist für uns ein wirtschaftliches Desaster. Wir haben ja laufende Kosten, die Miete, das Personal, die geleasten Busse. Die Einnahmen fallen jetzt auf einen Schlag weg. Die Situation ist belastend, das nehme ich nach Feierabend auch mit nach Hause.

Und wer weiß, vielleicht werde ich irgendwann sogar in eine Klinik abbeordert? Ich habe eine Zusatzausbildung für Beatmungspflege. Irgendwann können die Kollegen im Krankenhaus vielleicht nicht mehr, dann werden möglicherweise ausgebildete Pflegekräfte aus der ambulanten Versorgung abgezogen. Das wäre der Worst Case.

Aber so weit muss es nicht kommen. Zurzeit denken wir nur von Tag zu Tag.“

Protokoll: Antje Lang-Lendorff

„Die Leute sehen uns mit anderen Augen“

Nicole Meyer, 51, arbeitet als Supermarkt-Verkäuferin in Sulzbach

Nicole Meyer arbeitet in einem Supermarkt in Sulzbach an der Saar. Kundinnen und Kunden kaufen seit Wochen alles leer, was sich lange lagern lässt: Mehl, Nudeln, Dosengemüse. Schon bevor der Laden öffnet, bildet sich eine Schlange vor der Tür. Die Menschen wollen als Erstes ihren Einkauf erledigen. „Wir können die Regale gar nicht so schnell wieder auffüllen, wie sie leergeräumt werden“, sagt sie.

Die Arbeit im Einzelhandel ist schlecht bezahlt. Das Bruttomonatsgehalt von Verkäuferinnen und Verkäufern liegt laut einer Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung bei durchschnittlich 1.890 Euro. Zwei Drittel der Befragten gaben an, unzufrieden mit ihrer Bezahlung zu sein. Die Arbeit der Branche wird vor allem von Frauen geleistet: 70 Prozent der Beschäftigten im Einzelhandel sind weiblich. Viele von ihnen arbeiten in Teilzeit, kümmern sich um die Kinder oder pflegen nebenher Angehörige.

In dem Supermarkt, in dem Nicole Meyer arbeitet, fehlen aktuell fünf ihrer Kolleginnen. Sie müssen ihre Kinder betreuen, weil Kitas und Schulen geschlossen sind. Das bedeutet: mehr Arbeit und Überstunden für alle anderen. Und da zurzeit tagsüber immer viele Kassen geöffnet sind, arbeitet weniger Personal auf der Supermarktfläche.

Nicole Meyer leidet an Diabetes Typ 1 und gehört zur Risikogruppe. Sie versucht positiv zu bleiben, obwohl sie selbst Angst vor dem Virus hat. Kontakt zu Kundinnen und Kunden gehört schließlich zum Beruf dazu. Als Vorsichtsmaßnahme gibt es bereits 1,5-Meter-Markierungen an den Kassen, von denen auch nur noch jede zweite geöffnet wird, wegen des Abstands.

Die Stimmung der Menschen beim Einkauf habe sich verändert, erzählt Meyer. Viele wirkten fast panisch. Es gebe aber auch Kundinnen und Kunden, die für ihre Lage Verständnis zeigen. Die sich bedanken und ihr sagen, dass sie froh sind über ihre Arbeit. „Ich habe das Gefühl, dass uns viele Menschen durch diese Notlage mehr wertschätzen und mit anderen Augen sehen.“

Text: Steven Meyer; Nicole Meyer ist seine Mutter

„Es herrscht Ratlosigkeit“

Elisa Lindemann, 28, ist Leiterin der Notunterkunft „Marie“ für obdachlose Frauen in Berlin

taz am wochenende: Frau Lindemann, Sie leiten eine Übernachtungsunterkunft für obdachlose Frauen in Berlin. Haben Sie daran gedacht, die Einrichtung wegen des Coronavirus zu schließen?

Elisa Lindemann: Ja, auch bei uns in der Stiftung gab es solche Überlegungen. Wir haben uns aber dagegen entschieden, da wir unseren Nutzerinnen so lange wie möglich eine sichere Anlaufstelle bieten wollen. In der derzeitigen Situation überlegen wir jedoch jeden Tag neu, wie wir unser Angebot zum Wohle der Nutzerinnen bestmöglich aufrechterhalten können.

Was hat sich konkret verändert bei Ihnen in den vergangenen Tagen?

Normalerweise haben wir hier zehn Plätze, die mussten wir auf sechs reduzieren, um die geforderten Abstände einhalten zu können. Die Vorgabe, dass die Frauen maximal 14 Nächte am Stück hier schlafen können, haben wir ausgesetzt. Die Frauen, die hier sind, können jetzt erst mal unbefristet bei uns bleiben, um mögliche Infektionsketten zu vermeiden.

Das öffentliche Leben macht derzeit eine Vollbremsung. Was bedeutet das für obdachlose Menschen?

Es gibt viel weniger Anlaufstellen für die Menschen. Orte, an denen sie ansonsten auch mal zur Ruhe kommen, ein Buch lesen können, haben auf einmal geschlossen. Das belastet. Wir merken, dass die Stimmung unter den Frauen gereizter ist. Sie fangen schneller an zu streiten. Diskus­sio­nen werden schneller lauter.

Haben Sie das Gefühl, dass die Menschen gut über das Coronavirus informiert sind?

Ja, die Informationspolitik ist ja schon sehr umfassend. Die Frauen sind untereinander sehr aufmerksam, erinnern sich gegenseitig an die Händehygiene und ans richtige Niesen und Husten. Das Hauptthema ist aber: Was bedeuten diese Einschränkungen für mein Leben? Die Angst ist groß, dass auch noch Parks geschlossen werden. Dann gibt es kaum noch Orte, wo die Menschen hinkönnen. Und was passiert bei einer Ausgangssperre? Da gibt es bis jetzt noch keine Antworten.

Was würde passieren, wenn eine von Ihren Bewohnerinnen sich nachweislich mit dem Virus infiziert hat?

Das ist eine der vielen Fragen, die noch ungeklärt sind. Unsere Einrichtung müsste dann schließen, weil natürlich auch unsere Mitarbeiterinnen in Quarantäne müssten. Aber was passiert mit den Bewohnerinnen? Die können ja nirgendwo in Quarantäne. Ehrlich gesagt herrscht da Ratlosigkeit. Sowohl bei uns als auch bei den Behörden. Keiner weiß wirklich, wie es dann weitergehen soll.

Interview: Daniel Böldt