Diskriminierung im Gesundheitswesen: „Es gibt keine schwulen Zähne“
In Zahnarztpraxen erfahren queere und HIV-positive Menschen oft Diskriminierung. Eine Berliner Praxis begreift sich als Teil der Community.
Im 11. Stock eines Hochhauskomplexes gleich gegenüber der U-Bahn-Station liegt die Praxis mit Panoramablick über den bunten Kiez und die Dächer Berlins. Peter Lutz trägt einen weißen Arztkittel. Gemeinsam mit einem Kollegen leitet er die Zahnarztpraxis in Berlin-Schöneberg. Etwa die Hälfte der Patienten ist, so sagt er, schwul. In der Praxis findet die Community Ärztinnen und Ärzte, die ihnen diskriminierungsfrei begegnen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn auch im Gesundheitswesen werden queere Menschen und Personen mit HIV noch häufig diskriminiert. Das konnte Peter Lutz in seiner Zeit als Krankenpfleger selbst erleben.
1991 zog der damals 20-Jährige nach Berlin. Er war jung und schwul zu einer Zeit, in der Homosexuelle noch häufig mit der Aids-Epidemie in Verbindung gebracht wurden. Es gab damals außerdem noch wenig Wissen über das Virus, das zu einer Schwächung der Immunabwehr führt. „Ich habe meine Sexualität in einer Zeit entdeckt, in der diese als Problem angesehen wurde“, sagt er. „Ich konnte sie nicht frei ausleben.“ In Berlin habe er damals als Krankenpfleger beim Verein Hilfe-Information-Vermittlung e. V. gearbeitet und sich um aidskranke Menschen gekümmert.
Der Verein wurde von schwulen HIV-positiven Männern gegründet, ursprünglich als Selbsthilfegruppe. In dieser Zeit habe er viele Menschen kennengelernt, die ihn inspirierten – sowohl unter den Patienten als auch unter den Mitarbeitenden. Er habe deren Mut und Engagement bewundert und sich bei der Arbeit politisiert. Damals gab es noch keine Medikamente, eine Diagnose glich einem Todesurteil. „Wir haben die Menschen beim Sterben begleitet“, erzählt er. Ein harter Job für einen 20-Jährigen – der Tod war allgegenwärtig, ständig starben junge Männer, die er pflegte. „Ich dachte mir damals: So muss sich Krieg anfühlen.“
Ein Statement
Doch nicht nur in der Arbeitszeit drehte sich vieles um Leid und Tod. Die Angst vor HIV war allgegenwärtig. Peter Lutz sagt, in der Community habe damals jeder eine Person gekannt, die an Aids gestorben ist. „Es war dramatisch, ich war ständig auf einer Beerdigung“, sagt er. Menschen, zu denen er über Jahre intensive freundschaftliche Beziehungen pflegte, starben und fehlten anschließend in seinem Leben. „Das hat mich bis heute geprägt.“
Peter Lutz habe bei seiner Arbeit auch oft Patienten zum Zahnarzt begleitet. So erfuhr er von den Diskriminierungen und den körperlichen Beschwerden vieler Patienten. „Damals gab es nur zwei Zahnärzte in Berlin, zu denen HIV-positive Menschen gehen konnten“, erzählt er. Beide waren schwul, und Peter Lutz lernte sie während seiner Arbeit als Krankenpfleger kennen. Später entschied er sich, sein Abitur nachzuholen und Zahnmedizin zu studieren. Nach seinem Studium fing er bei einem dieser beiden Zahnärzte zu arbeiten an.
Die drei Männer schlossen sich Jahre später zusammen und eröffneten eine gemeinsame Praxis, einer ist heute bereits in Rente. Peter Lutz' aktivistischer Ansatz ging nicht verloren: „Der Standort am Nollendorfplatz sollte ein Statement sein.“
HIV wird auch heute noch oft mit den Schreckensbildern von früher in Verbindung gebracht. Dabei bedeutet eine HIV-Diagnose schon lange nicht mehr das, was sie früher einmal bedeutete. Mit den heutigen Behandlungsmöglichkeiten ist HIV in westlichen Ländern mittlerweile eine Diagnose, mit der es sich gut leben lässt.
Die Medikamente sorgen dafür, dass die Viruslast im Körper oft so gering ist, dass sie nicht mal nachgewiesen werden kann. HIV-positive Menschen können also sogar ungeschützten Geschlechtsverkehr haben, ohne das Virus weiterzugeben. Oder HIV-negative Kinder bekommen. Diskriminierung im Gesundheitswesen gibt es offenbar dennoch.
Abweisung bei Zahnschmerzen
Hildegard Welbers, 73, hat sie selbst erlebt. Nach ihrer Diagnose dauerte es lange, bis sie einen Zahnarzt fand, der sie wie alle anderen Patientinnen und Patienten behandelte. Als Welbers bei einem Zahnarzttermin ihren HIV-Status ansprach, reagierte das Personal in der Praxis aufgeregt und nervös. Nach einer kurzen Besprechung des Teams wurde sie dann darum gebeten, am Ende des Tages wiederzukommen. „Wir müssen das Zimmer nach ihrem Termin komplett desinfizieren“, sagte die Mitarbeiterin zu ihr.
In einer anderen Praxis wurde sie erst gar nicht als Patientin angenommen. Die Erklärung: Das Praxispersonal wolle sie wegen ihres HIV-Status nicht behandeln. „Ich fing sofort an zu weinen und brach zusammen“, erinnert sie sich. „Ich fühlte mich wie jemand, vor dem andere Angst haben müssen“, erzählt sie. Sie gab sich selbst die Schuld und sah sich als Gefahr. „Die Abweisung war schlimmer als meine Zahnschmerzen.“
Erst mit Unterstützung der Aids-Hilfe fand Hildegard Welbers eine Praxis, die sie so behandelte wie alle anderen Patientinnen und Patienten auch. Das Robert-Koch-Institut weist in seinem Ratgeber für Ärztinnen und Ärzte darauf hin, dass bei allen Patientinnen und Patienten die Maßnahmen der Basishygiene anzuwenden seien – der HIV-Status der zu behandelnden Person könne schließlich auch unbekannt sein. Jemanden wegen einer HIV-Diagnose abzulehnen ist nicht nur falsch, es ist auch gesetzwidrig.
Peter Lutz hört immer wieder, wie HIV-positive Patientinnen und Patienten in anderen Praxen behandelt werden. Er kann dieses Verhalten nicht verstehen, HIV-positive Menschen bräuchten keine Sonderbehandlung. Die Gegenstände im Behandlungsraum müsse er nach jeder Behandlung auf die gleiche Weise sterilisieren. „Ich muss theoretisch jeden Patienten so behandeln, als hätte er eine ansteckende Erkrankung“, sagt Peter Lutz. Das könne er nie ausschließen.
Offenheit und Unterstützung
Viele schwule Männer kommen gerne in die Praxis am Nollendorfplatz, weil sie hier so behandelt werden wie alle anderen. „Es gibt zwar keine schwulen Zähne, aber Patienten mit besonderen Bedürfnissen“, sagt Peter Lutz. Auf seinem Behandlungsstuhl könne jeder Patient ohne Bedenken vom Ehemann sprechen, oder von sexuell ausgelösten Schleimhautproblemen. „Das ist nicht überall möglich“, sagt er. Ressentiments gebe es noch immer, selbst in Berlin. „Wir müssen weiterhin gegen Vorurteile kämpfen.“
Dass sich am Nollendorfplatz viele andere queere Einrichtungen befinden, ist oft ein großer Vorteil. „Die Community steht nicht nur für Party, sondern auch für ein Netzwerk“, sagt Peter Lutz. Oft komme es nämlich vor, dass ein HIV-positiver Patient in die Praxis komme, der sich die Behandlung nicht leisten könne.
In solchen Fällen suche er mit seiner Praxis und anderen Einrichtungen im Kiez gemeinsam nach einer Lösung, um die Behandlung dennoch durchführen zu können – oft mit Erfolg. Peter Lutz weiß aus seiner Arbeit in den 90er Jahren noch genau, wie wichtig der Zusammenhalt und die Unterstützung in schwierigen Zeiten sein können. „Wenn es jemandem aus der Community nicht gut geht, unterstützen wir uns gegenseitig.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen