Corona spaltet Skandinavien

Ausnahmezustand in Dänemark und Norwegen, zurückhaltende Maßnahmen in Schweden und Finnland: Trotz ähnlicher Betroffenheit gehen die skandinavischen Länder höchst unterschiedlich mit dem Coronavirus um

Dänischer Kontrollposten an der Öresundbrücke nach Schweden am 14. März, als Kopenhagen die Grenzen schloss Foto: Peter Arvidson/imago

Aus Stockholm Reinhard Wolff

Dänemarks linke Tageszeitung Information hat es normalerweise nicht so mit Militärjargon. Aber in ihrer Wochenendausgabe porträtierte sie Ministerpräsidentin Mette Frederiksen als Dänemarks „Corona-Oberbefehlshaber“. Sie habe Handlungskraft bewiesen und sei die „starke Führungskraft“, nach der sich viele in Dänemark so lange gesehnt hätten.

In den letzten Tagen hatte Frederiksen manchmal mehrmals täglich zu Pressekonferenzen geladen und stets eine weitere drakonische Maßnahme verkündet, mittlerweile eine lange Liste: Schließung aller Universitäten, Schulen, Kindergärten, Bibliotheken und Kulturinstitutionen. Alle öffentlich Angestellten wurden nach Hause geschickt – außer bei „kritischen Funktionen“, wie im Gesundheitswesen oder bei der Polizei. Keine Veranstaltungen mit mehr als 100 Personen, Einschränkungen beim Kollektivverkehr und dann, nachdem ein geeintes Parlament der Regierung entsprechende Notstandsbefugnisse eingeräumt hatte: die Schließung der Landesgrenzen ab Samstag 12 Uhr.

Frederiksens schwedischen Parteifreund und Amtskollegen Stefan Löfven würde niemand „Corona-Oberbefehlshaber“ nennen. Mehrere Tage war er unsichtbar, dann tauchte Schwedens Ministerpräsident am Freitag wieder auf und bekräftigte, dass die Regierung ihrem bisherigen Kurs folge: Maßnahmen treffen, die der aktuellen Situation angemessen seien. Nicht mehr und nicht weniger. Und dabei werde man sich auch künftig nach dem Rat von Experten richten.

Notstandsgesetz geplant

Die britische Regierung plant angesichts von Kritik an ihrem Umgang mit dem Coronavirus schärfere Eindämmungsmaßnahmen. Gesundheitsminister Matt Hancock kündigte in einem Zeitungsartikel an, kommende Woche eine Notstandsgesetzgebung ins Parlament einzubringen. Im Fernsehen nannte er als Möglichkeiten das Requirieren von Hotels, Ausgangssperren und Geschäftsschließungen.

„Herdenimmunität“ kritisiert Bisher hatte die Regierung von Boris Johnson auf Anraten von Wissenschaftlern keine allgemeinen Zwangsmaßnahmen ergriffen, sondern sich auf den Schutz von Risikogruppen konzentriert, damit sich derweil wenig gefährdete Bevölkerungsteile unbeschadet infizieren und dadurch eine „Herdenimmunität“ entsteht, die die Ausbreitung des Virus zum Stillstand bringt. Andere Wissenschaftler hatten dies kritisiert. Am Wochenende erklärte die Regierung, das Tempo der Ausbreitung habe sich beschleunigt und daher würden jetzt doch Großveranstaltungen abgesagt. Über 70-Jährige sowie chronisch Kranke sollen zu Hause bleiben.

Die sitzen vor allem in der Gesundheitsbehörde Folkhälsomyndigheten. Die hält Schulschließungen für kontraproduktiv und Grenzschließungen für wirkungslos. Jedenfalls derzeit. Würden Schulen und Kindergärten geschlossen, könne Personal im Gesundheitssektor ausfallen, weil es sich um die Kinderbetreuung kümmern müsse. Doch in für das Funktionieren der Gesellschaft zentral wichtigen Bereichen könne man auf keine Hand verzichten.

Weil in Schweden die Verantwortung für das Gesundheitswesen bei den Regionen und für die Schulen bei den Kommunen liegt, haben sie große Freiheit, eigene, an die lokale Lage angepasste Entscheidungen zu treffen. So haben einige Kommunen einzelne Schulen geschlossen, in denen es Infektionen oder Verdachtsfälle gab. Ausbildungsministerin Anna Ekström findet das okay: „Wir haben eben nicht die gleiche Situation im ganzen Land.“

Im Prinzip bestimmen also die ExpertInnen der Gesundheitsbehörden die Corona-Politik. Als sie Anfang letzter Woche bei ihrer täglichen 11-Uhr-Zusammenkunft für das Ansteckungsrisiko die höchste Gefahrenstufe ausriefen und damit Zusammenkünfte von mehr als 500 Personen verboten, folgte die Regierung diesem Rat. Ebenso am Wochenende der Empfehlung, auf Auslandsreisen möglichst ganz zu verzichten. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass man nach entsprechender Empfehlung morgen die Schulen und bald die Grenzen schließt. „Aber das sind Einschränkungen grundlegender Freiheitsrechte. So etwas können wir nur machen, wenn es dafür eine Grundlage gibt“, sagt Justizminister Morgan Johansson.

Wieso glaube man eigentlich, selbst bessere ExpertInnen zu haben?

Dem „schwedischen Modell“ im Umgang mit Krisen folgt derzeit auch Finnland. Ministerpräsidentin Sanna Marin erklärte am Freitag, weiter wissenschaftlicher Expertise zu folgen. Justizministerin Anna-Maja Henriksson erinnerte daran, „dass wir ein Rechts­staat sind, der auch vor Willkür der Regierung geschützt werden muss.“

In Schweden zeigen aktuelle Umfragen, dass die große Mehrheit der Bevölkerung mit der Linie ihrer rot-grünen (Minder­heits-) Regierung einverstanden ist. Dabei wird in der Presse kritisiert, dass Entscheidungsfindungen zu langsam seien und es an Entschlossenheit fehle. Dabei wird an die großen Waldbrände 2014 oder Schwedens Reaktion auf den Tsunami in Südostasien 2004 erinnert. Darauf könne man „alles andere als stolz sein“ meint Dagens Nyheter. Bei solchen Krisen müsse man sofort und zentral reagieren: „Wir brauchen keinen Diskussionsklub, sondern Führung.“ Svenska Dagbladet appelliert dagegen: „Klaren Kopf bewahren, Sinn für Proportionen behalten.“ Viele Medien fragen unter Hinweis auf die Nachbarländer: Wieso glaube man eigentlich, bessere ExpertInnen zu haben?

Dabei sind sich bei Dänemarks Grenzschließung Schwedens Epidemiologen mit ihren ausländischen KollegInnen weitgehend einig. „Völlig sinnlos“ nennt Anders Tegnell von Folkhälsomyndigheten dies und bezieht sich auch auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Der einzige Effekt sei ökonomischer Schaden. Søren Brostrøm, Chef der dänischen Gesundheitsbehörde, widerspricht nicht. Kopenhagens Entscheidung sei „ein rein politischer Schritt“ gewesen, „nicht von uns empfohlen“. Es gebe keinen Nachweis über eine mehr als bescheidene Wirkung. Zudem seien die Grenzen nur für Nicht-DänInnen dicht. Arbeitspendler könnten weiter frei ein- und ausreisen.

Viren nehmen bekanntlich keine Rücksicht auf den Pass der Menschen. Aber auch Norwegen, wo Ministerpräsidentin Erna Solberg eine ähnliche Rolle spielt wie ihre dänische Amtskollegin Frederiksen, traf eine vergleichbare Regelung und stoppte den Schiffs- und Flugverkehr für Nicht-Norweger. Die Straßengrenzen nach Schweden und Finnland sind weiter offen, und für deren BürgerInnen gibt es noch keine Beschränkungen.

In Norwegens Norden würden viele aber gern eine Grenze haben, die den so gut wie noch nicht von Corona betroffenen Landesteil vom Süden abschotten soll. Auf den Inseln der Lofoten und Vesterålen haben Kommunen beschlossen, dass Personen aus dem Süden nicht einfach kommen dürfen, sondern nur nach 14 Tagen Quarantäne. Am Sonntag verbot die Regierung in Oslo, sich in seinem Ferienhaus aufzuhalten, wenn es in einer anderen als der Wohnsitzgemeinde liegt.