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Tabu war gestern

Babybeschau mit Ultraschall. Eine stundenlange OP. Tumorkonferenz. Patientinnen ohne Angehörige und Patientinnen, die sich für ihre Leiden schämen. Ein Tag mit Andreea Tanase, leitende Oberärztin einer gynäkologischen Station

Von Tigran Petrosyan (Text) und Karsten Thielker (Fotos)

Ob es gefährlich ist, wird Andreea Tanase häufig gefragt während ihrer Visite im Evangelischen Krankenhauses in Lutherstadt Wittenberg. Eine Patientin, die eine Fehlgeburt hatte und bei der Ausschabung viel Blut verlor, schaut Tanase unsicher an. „Ist es gefährlich?“

Seit dem frühen Vormittag besucht Tanase die Patientinnen auf der Station für Gynäkologie und Geburtshilfe. Sie ist die leitende Oberärztin in der Fachklinik des Krankenhauses.

Tanase ist 35, sie redet schnell, läuft schnell, jede ihrer Bewegungen ist schnell. Sie fährt mit dem Computertisch durch den Korridor der gynäkologischen Station. Ihre Assistentin folgt ihr wortlos.

Gebärmuttervorfall liest sie auf dem PC und klopft an die nächste Tür. Eine Frau, Anfang 80, liegt ruhig in ihrem Bett. Sie kam ins Krankenhaus, als ihre Gebärmutter aus der Scheide herausragte. Jahrelang litt sie unter einer Beckenbodenschwäche. Dennoch suchte sie in all der Zeit nie eine Frauenärztin auf. „Sie konnte ihre Scham nicht überwinden, mit einem Arzt über ihre Beschwerden zu sprechen“, erklärt Tanase später. Gynäkologische Probleme seien ein Tabu für viele Frauen. Nicht nur ältere, auch jüngeren Frauen sei es peinlich, einen Gynäkologen zu besuchen.

Tanase hat auch in Nordrhein-Westfalen in verschiedenen Klinken gearbeitet. Dort sei die Problematik nicht so stark ausgeprägt wie im sachsen-anhaltinischen Wittenberg, stellt sie fest: „Es ist mit ihrer Sozialisation verbunden.“ Deswegen engagiert sie sich für das Patientinnenforum bei ihr in der Klinik. „Tabu war gestern, heute geht es um Lebensqualität“, lautet das Motto. Tanase ermutigt die Frauen, über ihre Beschwerden zu sprechen, ihre intimen Körperbereiche kennenzulernen und ein besseres Körpergefühl zu entwickeln.

Auch mit der Patientin, die wegen einer sexuell übertragbaren Infektion erneut auf der Station liegt, will Tanase heute ein „vernünftiges Gespräch“ führen. Die Frau hat mit Ende 20 schon mehrere Operationen mit Kaiserschnitten und Bauchspiegelungen hinter sich. Eine Risikopatientin.

Ihren weißen Kittel muss Tanase mehrfach gegen einen hellblau-grünen wechseln. Dienstags ist OP-Tag bei den GynäkologInnen in Wittenberg. Als Tanase in den Operationssaal tritt, ist die Patientin auf dem OP-Tisch bereits unter Vollnarkose. Hier herrscht Ruhe. Auffällig sind nur die verschiedenen türkisfarbenen Tonstufen der Kleidung und Fliesen. Tanase ist in ihrem Rhythmus. Sie zögert nicht, ihre Handbewegungen sind schnell und sicher. Sie sticht eine Kanüle durch den Nabel in die Bauchhöhle der Patientin und führt das Endo­skop, an der Spitze mit Kamera, in den Bauchraum.

Nach ihrem Medizinstudium in Bukarest wollte sie die moderne Technik der Laparoskopie studieren, genau deswegen ist sie vor etwa acht Jahren aus Rumänien nach Deutschland gekommen. Heute gilt sie als eine der besten Spezialistinnen der laparoskopischen Chirurgie – einer minimalinvasiven Va­rian­te, bei der die Bauchdecke nicht aufgeschnitten werden muss, sondern mithilfe von „verlängerten“ Scheren und Messern operiert wird, die durch eine kleine Öffnung eingeführt werden.

Tanase operiert zusammen mit Martin Voss, dem Chefarzt, der auf der anderen Seite des OP-Tischs steht. Mit vier Händen versiegeln und schneiden die beiden, dabei sind ihre Blicke die ganze Zeit auf den Monitor fokussiert. Es sieht aus wie an einer Playstation, anstatt Gamecontroller benutzen sie aber Stromzange und Schere.

Anderthalb Stunden dauert es, eine durch Myome vergrößerte Gebärmutter zu entfernen, ein häufig gutartiger Tumor bei Frauen. Tanase verlässt den OP-Saal. Eine Assistentin übernimmt die Restarbeit.

„Ich habe mich für diese Position mental etwa fünf Jahre lang vorbereitet“

Andreea Tanase, Gynäkologin

Fünf solche Operationen in verschiedene Konstellationen macht Tanase in der Woche. Viele Nachfragen für einen OP-Termin lehnt sie ab. Der Grund sei die geringe Zahl von AnästhesistInnen, die eher auf Honorarbasis und nicht als Angestellte arbeiten wollen.

Für eine späte Mittagspause in einer gemütlichen Ecke in der Mensa nimmt sie sich nur wenig Zeit, die Hälfte des Essens lässt sie auf ihrem Teller. Kein Appetit. Und dazu stört ein Kollege sie beim Essen mit seinen Fragen. Tanase antwortet geduldig. Auf dem Weg zur Intensivstation nimmt sie einen Kaffee mit.

Dort kümmert sie sich seit einem Monat um eine über 60-jährige Patientin. Sie schafft es nicht, allein zu atmen, ernährt wird sie durch eine Magensonde. Rund sieben Kilogramm wog der Tumor, der an einem Eierstock hing. Die Leber hat sich langsam erholt, doch die Nieren brauchen einige Monate, weil der Tumor Gefäße im Bauchraum eingequetscht hat, bevor Tanase ihn entfernte.

Was Tanase persönlich besorgt, ist, dass sich niemand um die Patientin kümmert. Sie wohnt allein und isoliert. Ihren Sohn hat Tanase zwar benachrichtigt, doch der habe kein Interesse an seiner Mutter. Deshalb hat ein Richter eine rechtliche Betreuung für die Frau angeordnet.

Weiter geht es. Nun muss sich Tanase um ein neues Leben kümmern. Sie springt auf die Station der Geburtshilfe. „Ich weiß, dass mir geholfen wird, deswegen mache ich mir nicht so viele Gedanken“, sagt die Patientin, die ihr Baby in einem Monat auf die Welt bringen soll. Sie kommt aus Jessen und ist vierzig Kilometer nach Wittenberg zu Tanase gefahren. Jetzt kann sie bei einer Ultraschalluntersuchung mitverfolgen, wie das Herz ihres Babys schlägt.

Tanase beschäftigt sich nur mit Geburtsplanungen. Eine Abtreibung auf Wunsch der Patientin ist für sie kein Thema. Da das Krankenhaus zur evangelischen Paul Gerhardt Diakonie gehört, darf man hier keine Schwangerschaftsabbrüche machen. „So weit ist die Entscheidung für mich getroffen“, sagt sie.

Tanase ist wieder in ihrem Büro. Es gibt keinen Notfall, keine Pa­tien­tin wartet auf sie, doch hektisch sucht sie nach Patientenakten in den Regalen. In wenigen Minuten muss sie zur Tumorkonferenz.

Ist es eigentlich nicht zu viel an einem Tag? Muss sie sich nicht ein wenig erholen, um vielleicht später noch besser zu arbeiten? Wie geht sie mit ihrem dauernden Stress um? „Das ist ein positiver Stress, der mich sehr motiviert“, sagt sie, „Ich brauche Adrenalin.“ Auch deswegen wolle sie in der Zukunft mal mit der Organisation Ärzte ohne Grenzen nach Tansania gehen, um dort zu helfen. „Je komplizierter ein Fall ist, desto größer ist die Herausforderung“, sagt sie.

Genügend Herausforderungen hat sie aber auch in Wittenberg. Es war ein riesiger Sprung für sie, mit 31 Jahren eine leitende Position zu übernehmen. Als junge Oberärztin spüre sie den Druck in der „chirurgischen Männerwelt“, wie sie sagt. Das habe sie erwartet und setze sich durch, sagt sie. „Unter diesem Druck zu arbeiten, macht mich doppelt besser, weil ich auch doppelt mehr arbeite.“

Zur ihrem Job gehört es, Entscheidungen allein treffen zu können. „Ich habe mich für diese Position mental etwa fünf Jahre lang vorbereitet. Schon als Assistenzärztin habe ich mir vorgestellt: Wie würde ich agieren, wenn ich Oberärztin wäre?“, sagt sie. „Das habe ich nicht umsonst geübt.“

Herausforderungen hat sie auch außerhalb des Krankenhauses. Ressentiments etwa. Für die Rumänin, die aus „der dritten Welt“ komme, wollte ein Koch in einem Restaurant nicht mal kochen. „Trotzdem versuche ich, das nicht persönlich zu nehmen“, sagt Tanase, die eigentlich schon längst bei der Tumorkonferenz sein sollte.

In einem abgedunkelten Zimmer wirft der Radiologe die verschieden Bilder auf die Wand. Die Onkologin kommentiert die Befunde ihrerseits. Den Raum verlässt Tanase mit neuen Aufgaben. Sie will einer Patientin davon abraten, eine Chemotherapie abzulehnen. Es ist ein letzter Versuch.

Ihr Diensttelefon klingt, sie eilt zurück ins Büro. Es ist fast 16 Uhr. Gleich findet die Sitzung der Arzneimittelkommission statt. Noch etwa zwei Stunden muss Tanase voll konzentriert bleiben, dann kann sie Feierabend machen, und mit Freunden bei einem Rotwein in einer spanischen Tapasbar im Wittenberger Zentrum sitzen. „Mit Menschen zu arbeiten ist schwieriger, als mit Tieren“, hatte ihr Vater immer gewarnt. Er ist Tierarzt.

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