Vom Weltall aus gesehen

In Berlin wurde Timm Ulrichs mit dem Käthe-Kollwitz-Preis ausgezeichnet und hat eine Ausstellung in der Akademie der Künste. Gute Gelegenheit, seinem Witz in der Auseinandersetzung mit Kunst und ihrem Betriebssystem zu begegnen

Timm Ulrichs, „The End“, Augenlid-Tätowierung, 1970/. Dokument einer Tätowieraktion von Horst H. Streckenbach, Samy‘s Tattoo Studio, Frankfurt a. M., 16. 5. 1981 Foto: Foto-Hoerner, Hannover

Von Tilman Baumgärtel

Erfolg in der Kunstwelt scheint oft davon abzuhängen, dass man eine einmal entwickelte Idee hartnäckig beibehält, höchstens variiert und in Maßen weiterentwickelt.

Und dann ist da dieser Timm Ulrichs, der offenbar jeden Tag eine neue Idee hat, diese zügig umsetzt und daraus ein gigantisches Oeuvre geschaffen hat, das einen jedes Mal aufs Meue überrascht, wenn man sich damit beschäftigt. Der Berliner Künstler Thomas Kapielski warnte schon vor mehr als zehn Jahren: „Wenn man meint, eine gute Idee zu haben, ist es ratsam, vorher auszukundschaften, ob es nicht längst schon seine war.“ Ulrichs’ Werk wuchert unüberschaubar in alle Richtungen und lässt sich weder von Genres noch Stilbegriffen eingrenzen. Seine Werke können Zeichnungen sein oder Land-Art, Bildhauerei oder Performance, Konzeptkunst oder Konkrete Poesie.

Das scheint den Kunstbetrieb zu überfordern. Timm Ulrichs, der in diesem Jahr 80 wird, ist nie so bekannt geworden wie gleichaltrige Künstler, die wie er in den 60er Jahren ihre Karrieren begonnen haben. Das scheint ihn zu wurmen, bei der Eröffnung seiner aktuellen Ausstellung in der Akademie der Künste bezeichnete er sich selbst als künstlerischen „Bodensatz“. Der Durchbruch in die A-Liga der deutschen Gegenwartskunst war ihm in der Tat verwehrt. Aber das ist halt der Preis, wenn man sich einer identifizierbaren Künstlerhandschrift verweigert.

Aber wer Timm Ulrichs kennen sollte, kennt ihn auch. Obwohl er als Künstler keinerlei formale Ausbildung hatte, war er von 1972 bis 2005 Professor an der Kunstakademie Münster. Jetzt hat er auch noch in Berlin den Käthe-Kollwitz-Preis 2020 erhalten, weswegen ihn die Akademie der Künste mit einer kleinen Ausstellung ehrt für ein Werk, bei dem selbst ein schräger Gedanke plötzlich kosmische Dimensionen annehmen kann – wie bei dem Blechschild mit der Aufschrift „Globus Maßstab 1:1“ von 1968, anzubringen an einem beliebigem Objekt auf dem erwähnten Globus. Mit ähnlich schlichten Mitteln erreicht Timm Ulrichs in einer neuen Arbeit die „Aufhebung der Erdrotation“: zehn Kaskadenblitze, die ihre Lichter binnen 0,36 Sekunden mit Erdrotationsgeschwindigkeit abschießen. „Vom Weltall aus gesehen“, sagt Ulrichs, „steht der Lichtpunkt still.“

„Ich kann keineKunst mehr sehen“

So wirken viele Arbeiten von Timm Ulrichs wie aus dem Ärmel geschüttelt, und erst auf den zweiten Blick wird eine Ebene hinter dem vordergründigen Knalleffekt deutlich. Auch wenn sich der Künstler selbst als Kunstwerk ausstellte oder sich 1975 mit schwarzer Sonnenbrille, Blindenbinde und -stock sowie dem Schild „Ich kann keine Kunst mehr sehen“ durch die Art Cologne führen ließ (zwei seiner bekanntesten Werke), waren das einerseits aufmerksamkeitsstarke Aktionen. Andererseits aber eben auch Fortsetzungen von kunsthistorischen Porträttraditionen im Zeitalter von Performance Art beziehungsweise eine Kampfansage an den kommerziell orientierten Kunstbetrieb, mit dem der Künstler schon zu dieser Zeit auf Kriegsfuß stand.

Die Ausstellung in Berlin lässt von alldem wenig erahnen. Man hat sich auf die Textarbeiten von Timm Ulrichs konzentriert. Wenn die nur aus einem Satz wie „Am Anfang war das Wort Am“ besteht oder auf einem Lichtband ununterbrochen der Satz „eine Tautologie ist eine Tautologie ist eine …“ etc. vorbeizieht, kann Ulrichs schnell mal wie ein Kalauerkönig wirken. Aber wenn er bei Gertrude Steins berühmter Sentenz „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose“ das Wort „Rose“ einmal durch eine echte, einmal durch eine Plastikblume ersetzt, ist man ganz schnell bei Grundproblemen der Kunst und der ästhetischen Repräsentation.

Eine Arbeit von 1963, bei der Ulrichs das Wort „Permutation“ in allen möglichen Varianten von einem Computer durchpermutieren ließ, zeigt, dass ihm zu jedem Medium etwas einfiel – auch zur Schreibmaschine, von der vier zertippte Farbbänder unter dem Titel „Timm Ulrichs: Das literarische Gesamtwerk“ zu sehen sind.

Nicht fehlen darf „The End“, für das sich Ulrichs diese Worte auf das Augenlid tätowieren ließ. Wenn er irgendwann für immer die Augen schließt, hat sein Leben einen Abspann wie ein alter Hollywood-Film. Das alles ist schön zu sehen, aber wer eigens für die Ausstellung zur Akademie der Künste gekommen ist, könnte sie etwas unbefriedigt verlassen. Es gäbe so viel mehr zu zeigen, und Platz wäre gewesen. Die beiden großen Hallen der Akademie stehen leer, was dem Besuch etwas von einer Visite in einem verwunschenen Haus gibt.

Eher zum Geist von Timm Ulrichs’ Kunst dürfte die Ausstellung passen, die das Haus am Lützowplatz in Berlin anlässlich dessen 80. Geburtstages im März ausrichtet. Am ersten Tag ist der Ausstellungsraum komplett leer, der täglich mit einem neuen Kunstwerk Ulrichs’ bestückt wird. Nach hundert Tagen sind hundert Exponate da, von hundert Autorinnen und Autoren kommentiert. Komplett ist die Ausstellung nur am letzten Tag, bei der Finissage, bei der auch der Katalog erscheint.

Timm Ulrichs’ Heimatstadt Hannover lässt den 80. Geburtstag des Künstlers ohne Ausstellung verstreichen, nachdem Sprengel Museum und Kunstverein ihn vor zehn Jahren zum 70. Geburtstag ausführlich geehrt haben. So bekommt die Hauptstadt jetzt die invertierte Geburtstagspräsentation, die Ulrichs’ aberwitzigem Werk entspricht.

„Timm Ulrichs: Weiter im Text“ in der Akademie der Künste in Berlin, bis zum 1. März