75 Jahre Auschwitz: Tötung nach Strichliste

Am Holocaust-Gedenktag wird in Berlin auch der Euthanasie-Opfer gedacht. Der Bundesbeauftragte warnt vor aktueller Behindertenfeindlichkeit.

Historisches Bild aus der NS-Zeit: Menschen werden in Bussen abtransportiert.

Menschen mit Behinderungen wurden während der NS-Zeit in Tötungsanstalten transportiert Foto: epd/picture alliance

BERLIN taz | Ein blaues Minus oder ein rotes Plus entschieden über Leben und Tod: Ab April 1940 arbeiteten in der Berliner Tiergartenstraße Ärzte und Verwaltungsangestellte an der Durchführung der Ermordung von Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Ein blaues Minus bedeutete Weiterleben, ein rotes Plus die Tötung der Patient*innen. Die Ärz­t*innen entschieden, ohne ihre Opfer jemals zu Gesicht bekommen zu haben.

Dort, wo damals die Euthanasiezentrale, verdeckt als „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“, ihren Sitz hatte, befindet sich heute der Gedenkort für die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie-Morde. Ihnen wurde am Montag mit einer Kranzniederlegung gedacht.

Europaweit wurden mehr als 300.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen ermordet, ungefähr 400.000 weitere zwangssterilisiert. Im Rahmen der sogenannten „T4“-Aktion plante die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ die systematische Tötung. Leitende Mitarbeitende mussten ihre nationalsozialistische Gesinnung nachweisen. Alle anderen Angestellten wurden lediglich zur Geheimhaltung verpflichtet.

Die Auswahl der Euthanasie-Opfer wurde von circa 40 ärztlichen Gutachtern durchgeführt. Aus 200.000 erfassten Patienten wurden 70.000 selektiert und mit Kohlenmonoxid erstickt. Für den Massenmord bauten die Nationalsozialisten fünf psychiatrische Einrichtungen und ein ehemaliges Gefängnis in Tötungszentren um.

Inklusion noch längst nicht selbstverständlich

Beim Gedenken an diese Verbrechen steht am Montag Carina Kühne am Rand des Mahnmals. „Es ist sehr wichtig, dass Menschen heute hier sind und der Opfer gedenken“, erklärt die Inklusionsaktivistin mit Downsyndrom. „Denn auch heute ist Inklusion noch längst nicht selbstverständlich. Es gibt noch immer viele Barrieren in den Köpfen.“

Kühne engagiert sich gegen pränatale Tests als Kassenleistung zur Feststellung von Trisomien: „Neun von zehn Föten mit Downsyndrom werden abgetrieben. Warum dürfen wir nicht auf die Welt kommen? Wir leben ja und sind glücklich!“

Auch Jürgen Dusel, Bundesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen, gedenkt der Opfer. „Der bittere Befund auch 75 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus ist: Leider sind viele immer noch nicht frei davon, vermeintliche Minderheiten ungleich zu behandeln oder abzuwerten.“

Dusel warnt vor Behindertenfeindlichkeit und Hassrede in den sozialen Medien: „Wir dürfen nicht den Fehler machen, bei Diskriminierungen oder auch Hassreden im Internet wegzuschauen, dies kleinzureden oder die Betroffenen zu vereinzeln.“

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