Erdoğan warnt vor Flüchtlingen

Syrische Regierungstruppen rücken in der Rebellen-Provinz Idlib Richtung Norden vor. 80.000 Menschen sind auf der Flucht Richtung Grenze. Die Türkei könne sie unmöglich aufnehmen, sagt Präsident Erdoğan

Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

Mit Artilleriefeuer und Luftangriffen geht das syrische Regime von Baschar al-Assad seit dem Wochenende gegen Dörfer und Städte im Süden der von Rebellen und Dschihadisten kontrollierten Provinz Idlib vor. Im Zentrum der Angriffe steht die Stadt Maaret al-Numan an der Autobahn M5, die von Damaskus nach Aleppo führt. Die Kontrolle dieser Hauptverkehrsverbindung, die mitten durch Idlib verläuft, ist seit Längerem Ziel der Assad-Truppen.

Die Angriffe haben die Situation der Menschen in der belagerten Provinz weiter verschärft. Nach einem Angriff auf den Markt von Maaret al-Numan, bei dem 27 Zivilisten getötet wurden, hat sich aus der Stadt und den umliegenden Dörfern ein neuer Flüchtlingstreck in Richtung der türkischen Grenze in Bewegung gesetzt. Dort harren bereits Zehntausende Menschen in provisorischen Zelten aus.

Vor diesem Hintergrund warnte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Sonntag erneut, dass aus Idlib eine Flüchtlingswelle drohe, die die Türkei allein nicht mehr Schultern könne. Die regierungskritische Zeitung Cumhuriyet berichtete von 80.000 Menschen, die auf den Weg in die Türkei seien. In der türkischen Gesellschaft wächst angesichts von rund vier Millionen Flüchtlingen, die bereits im Land sind, der Widerstand, noch weitere aufzunehmen. Hinzu kommt, dass viele Menschen – insbesondere auch im progressiven Lager – Angst haben, dass sich auch Dschihadisten in die Türkei absetzen könnten.

Es ist deshalb wohl keine Propaganda, wenn Erdoğan warnt, dass sich ein Flüchtlingsstrom aus Idlib auch in Europa bemerkbar machen würde. Obwohl die Türkei nach wie vor die Ägäisküste kontrolliert und nach eigenen Angaben allein in der vergangenen Woche 3.000 Menschen davon abgehalten hat, nach Griechenland überzusetzen, würden diesen Zustrom laut Erdoğan „alle europäischen Länder und insbesondere Griechenland zu spüren bekommen“. Es werde „unvermeidlich“ zu Szenen kommen, wie sie vor dem EU-Türkei-Flüchtlingspakt an der Tagesordnung waren. Die Situation auf den Inseln Lesbos, Samos und Chios dürfte dann endgültig unerträglich werden.

Dabei wird auch eine Rolle spielen, dass im Streit um Gas- und Ölvorkommen im östlichen Mittelmeer die Türkei und Griechenland momentan wieder auf einen Konflikt zusteuern. Die Türkei könnte vor diesem Hintergrund mehr Leute durchlassen. Dennoch ist die Behauptung der griechischen Regierung, Erdoğan instrumentalisiere die Flüchtlingsfrage, nicht richtig. Bislang hat sich keine europäische Regierung ernsthaft darum gekümmert, was mit den drei Millionen Menschen, die den Angriffen in Idlib ausgesetzt sind, passieren soll. Erneut hängt deshalb alles vom russischen Präsidenten Wladimir Putin ab: Wenn er Anfang Januar nach Ankara kommt, wird Erdoğan ihn drängen, bei Assad für einen neuerlichen Waffenstillstand zu sorgen.