„Bismarck taugt nicht als Vorbild, er war kein Demokrat“

Man muss Bismarck aus seiner Zeit heraus verstehen – in seinen Taten und in seinen Untaten, sagt Ulrich Lappenküper, der die Otto-von-Bismarck-Stiftung leitet

Das größte Bismarck-Denkmal weltweit steht in Hamburg Foto: Christian Ohde/imago

Von Michael Kees

taz am wochenende: Herr Lappenküper, Ihre Otto-von-Bismarck-Stiftung sieht sich als Lernort der Demokratiegeschichte. Wie passt das zum Namensgeber?

Ulrich Lappenküper: Bismarck kann gewiss nicht zum Demokraten geschminkt werden, und dennoch vermag sein Leben geradezu exemplarisch den steinigen Weg zu Demokratie und Freiheit in Deutschland zu erzählen. Die parlamentarische Demokratie blieb ihm ein Gräuel, und dennoch ebnete er den Weg zu wichtigen demokratischen Errungenschaften wie einer Verfassung mit allgemeinem, gleichem und geheimem Männerwahlrecht. Die Bildung einer dem Parlament verantwortlichen Regierung blockierte er und suchte gleichwohl den Schulterschluss mit Reichstag und Bundesrat.

Zeitweise gab es in Deutschland einen richtigen Bismarck-Kult. Wie ist es dazu gekommen?

Der Kult, aus dem sich dann ein Mythos entwickelt hat, begann schon zu Lebenszeiten Otto von Bismarcks. Nach dem erzwungenen Rücktritt 1890 musste Bismarck zunächst zur Kenntnis nehmen, dass die Deutschen ihm in großen Teilen keine Träne nachweinten, weil sie ihre ganze Hoffnung in den neuen Kaiser Wilhelm II. hineinsteckten. Als sich allerdings nach wenigen Jahren Ernüchterung einstellte, wurde Bismarck zu einem Identifikationssymbol, in das vor allem Nationalliberale ihre unerfüllten Wünsche hineinprojizierten. Bismarck stieg dann nach seinem Tod 1898 zur Leitfigur eines Nationalismus auf, der sich von der eigentlichen historischen Figur Otto von Bismarcks weitgehend abhob.

Inwiefern?

Was man mit Bismarck identifizierte, konnte nur noch sehr bedingt mit der historischen Figur und mit seiner Politik in Einklang gebracht werden. Gerade im Ersten Weltkrieg stieg Bismarck zu einer Heldenfigur auf. Aber die Figur, der man da huldigte, hatte zumindest seit der Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 alles darangesetzt, einen solchen Krieg zu verhindern.

Wie viel ist heute noch von diesem Mythos oder Kult übrig?

Nicht mehr viel, denn die Bewertungen Bismarcks haben eine prägnante Entwicklung erfahren. Wir erleben nach dem Zweiten Weltkrieg eine Ambivalenz zwischen Denkmal und Dämon. Bismarck war für die einen ein nationaler Held und die anderen betrachteten ihn nach 1945 als Wegbereiter der deutschen Katastrophe. Das hat sich spätestens seit den 1980er Jahren deutlich gewandelt. Man ist zu einer Versachlichung der Debatte übergegangen, der in den 1990er Jahren ein starkes Plädoyer für eine konsequente Historisierung des Eisernen Kanzlers gefolgt ist. Bismarck wird heute als Teil der deutschen Geschichte begriffen und in seinen Leistungen und Grenzen unvoreingenommener betrachtet, als das lange Zeit der Fall war. Man muss Bismarck immer aus seiner Zeit heraus verstehen – in seinen Taten und in seinen Untaten.

Die AfD bezieht sich gerne auf Bismarck – unter anderem in der Außenpolitik, wenn es um eine Annäherung an Russland geht. Was halten Sie von dieser Vereinnahmung durch die AfD?

Das Ganze ist ahistorisch – zumindest was die Vereinnahmung der Russland-Politik Bismarcks angeht. Die sogenannten Putin-Versteher in der AfD können sich nicht auf Bismarck berufen, wenn sie ihn zum Protagonisten einer unverbrüchlichen deutsch-russischen Freundschaft erheben wollen. Wenn man sich die Russland-Politik Bismarcks anschaut, war Bismarck trotz aller prorussischen Sympathien vor allem Realpolitiker, der Russland als Gefahr wahrgenommen hat. Das Zarenreich war ob seiner Größe und Möglichkeiten schlichtweg unbesiegbar und musste deshalb zum Freund oder zumindest zum Partner gemacht werden.

Bismarck wurde in der Geschichte immer wieder instrumentalisiert. Woran liegt das?

In erster Linie daran, dass er eine Jahrhundertgestalt war, der wichtigste Staatsmann des 19. Jahrhunderts und wahrscheinlich nicht nur des deutschen Sprachraums, sondern in Europa insgesamt. Darüber hinaus liegt es daran, dass er so widersprüchlich ist. Diese Widersprüchlichkeiten bieten viele Möglichkeiten, sie für die eigenen politischen Belange zu instrumentalisieren.

Besonders Björn Höcke scheint in Bismarck den idealen Staatsmann und Politiker zu sehen. Taugt Bismarck als Vorbild?

Aus der Sicht eines Demokraten taugt er nicht als Vorbild, weil Bismarck mit Sicherheit kein Demokrat war. Leider hält sein Politikverständnis heute an vielen Stellen der Welt wieder Einzug. Bismarck sah die Politik als Kampf, in dem es galt, Freund und Feind zu unterscheiden und die Feinde zu bekämpfen, möglichst sogar zu vernichten – zumindest politisch. Ich glaube, ein solches Politikverständnis trägt nicht zur Lösung aktueller politischer Konflikte bei.

Foto: Bismarck-Stiftung

Ulrich Lappenküper

Jahrgang 1959, ist Historiker und Hochschullehrer. Seit 2009 ist er Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh.

Dennoch ist Bismarck heute noch präsent. Es gibt die vielen Denkmäler, den Bismarck-Hering und Bismarck-Mineralwasser. Über 600 Straßen sind nach ihm benannt. Ist es problematisch, wenn eine umstrittene Figur wie Bismarck durch so viele Denkmäler und andere Dinge geehrt wird?

Es stellt sich die Frage, ob der Begriff der Ehrung an dieser Stelle der richtige ist. Ich würde aber betonen, dass mit Otto von Bismarck nicht der Weg in die Katastrophe vorgezeichnet war – weder in die des Ersten noch des Zweiten Weltkriegs. Eine solche Einbahnstraßenpolitik vermag ich in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts nicht zu erkennen. Aber wir können uns an Bismarck immer noch reiben und genau das sollten wir unbedingt auch tun. Deshalb sind die vielen Denkmäler für uns in der Bismarck-Stiftung immer wieder Ansporn und Anlass, darüber nachzudenken, was er uns heute noch zu sagen hat und wie windungsreich die deutsche Geschichte im späten 19. und im 20. Jahrhundert verlaufen ist.

Unter Bismarck ist das Deutsche Reich zur Kolonialmacht geworden. Heute gibt es Debatten, ob man Straßen, die nach Kolonialisten benannt sind, umbenennen sollte. Gab es so eine Debatte auch um Bismarck?

Keine breite. Aber sein Name wird immer wieder in einschlägigen Debatten mit in die Riege jener hineingezogen, über die man mindestens kritisch nachdenken sollte. Bisher hat es, soweit ich es wahrnehme, noch keinen – in Anführungsstrichen – Bildersturm gegen Otto von Bismarck gegeben. Ich hielte davon offen gestanden auch nur bedingt etwas. Mir gibt diese Debatte in hohem Maße zu denken. Hier in Hamburg zum Beispiel gibt es solche Debatten über einige Protagonisten der Kolo­nialpolitik, ob das Wissmann ist oder Woermann. In Münster ist zuletzt der Hindenburgplatz in Schlossplatz umbenannt worden.

Was halten Sie davon?

Diese Art von Geschichts­tilgung ist hochproblematisch. Es gibt leider in vielen Staaten der Welt aktuell Tendenzen, die unliebsamen Entwicklungen in der eigenen Geschichte einfach auszublenden – ob das nun die Vereinigten Staaten von Amerika sind, ob das China ist, ob das Russland ist. Die Bundesrepublik Deutschland tut meiner Meinung nach gut daran, sich weiterhin auch mit den dunklen Seiten ihrer Geschichte kritisch auseinanderzusetzen und sie nicht in irgendeiner Form auszuradieren.