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Gewalt gegen Proteste in ChilePolizei wird gummifrei

Nach hunderten Augenverletzungen: Chiles Carabineros dürfen nur noch in Ausnahmefällen Gummigeschosse gegen Protestierende einsetzen.

Protest in Santiago gegen den Einsatz von Gummigeschossen Foto: Esteban Felix/ap

Buenos Aires taz | Chiles Polizei hat den Einsatz von Gummigeschossen gestoppt. „Als Vorsichtsmaßnahme wurde angeordnet, die Verwendung dieser nichttödlichen Munition als Anti-Aufruhr-Mittel auszusetzen“, verkündete Mario Rozas, oberster Chef der Carabineros, am Dienstag. Lediglich in einer Extremsituation zur Selbstverteidigung sei der Einsatz noch erlaubt, so der Leiter der militärähnlichen Polizei.

Bei den seit über einem Monat anhaltenden Unruhen wurden bisher über 200 Menschen Opfer von Augen- und Gesichtsverletzungen durch Gummigeschosse. Viele von ihnen haben ein Augenlicht für immer verloren.

Rozas reagierte mit dem Verbot aber nicht auf die hohe Opferzahl, sondern auf die Ergebnisse einer Materialuntersuchung der Fakultät für Physik und Mathematik der Universität von Chile. Diese hatte festgestellt, dass eingesetzte Gummigeschosse lediglich zu 20 Prozent aus Kautschuk bestanden, aber zu 80 Prozent aus Verbindungen aus Kieselsäure, Bariumsulfat und Blei.

Die Polizeibehörde hatte stets beteuert, es handle sich um reine Kautschukgeschosse. Die Materialprüfung war von der Augenabteilung des Hospitals del Salvador in Auftrag gegeben worden. In dem Hospital in Santiago wird die Mehrzahl der Augenverletzungen behandelt.

Alarmierender Brief aus der Ärztekammer

Menschenrechts- und soziale Organisationen prangern seit Beginn der Proteste Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Ordnungskräfte an. Protestierende berichteten mehrfach, dass die Carabineros gezielt in die Gesichter von Demonstrant*innen schießen. Zahlreiche Videoaufnahmen belegen das brutale Vorgehen sowie Misshandlungen durch die Carabineros.

Die Carabineros sind eine militaristische Polizei, die 1927 aus der Armee hervorging. Sie ist straff organisiert und verfügt über eine militärische Bewaffnung.

Bereits am 5. November veröffentlichte die konservative Tageszeitung El Mercurio einen alarmierenden Brief des Präsidenten der chilenischen Ärztekammer, Izkia Siches, und des Präsidenten der Ophthalmologischen Gesellschaft, Dennis Cortés. Sie berichten, dass zwischen dem 19. Oktober und dem 2. November 133 Patienten mit schwerem Augentrauma allein in der ophthalmologischen Abteilung des Salvador-Krankenhauses behandelt wurden.

„Die Zahl erhöht sich weiter, nimmt man die über 40 weiteren Fälle hinzu, die im selben Zeitraum in verschiedenen Behandlungszentren in Santiago und in den verschiedenen Regionen registriert wurden“, schrieben die Mediziner. 51 Prozent davon sind durch Projektile aus Schusswaffen verursacht. „Die Verletzungen sind vielfaltig, aber auffallend ist, dass über 60 Prozent der Patienten wegen Augenverletzungen behandelt wurden und diese eine Blindheit in dem betroffenen Auge aufwiesen, die mehrheitlich durch den Einschlag von Projektilen und Gummigeschossen herbeigeführt wurden.“

Mindestens 23 Tote, über 2.300 Verletzte

Diese hohe Zahl Fällen sei auch deshalb alarmierend, weil sie über denen liege, die aus Ländern bekannt sind, in denen es ähnliche Protestsituationen gibt. „Die Zahl der Patienten, die ihren Augapfel durch den Einsatz nichttödlicher Waffen verloren haben, ist sehr alarmierend und wir liegen damit international leider an der Spitze“, so Siches.

Präsident Sebastián Piñera hatte den Gewaltmissbrauch von Carabineros und Militärs erst letzten Sonntag eingeräumt. „In einigen Fällen wurden die Protokolle nicht eingehalten, gab es den exzessiven Einsatz von Gewalt, kam es zu Missbrauch oder Straftaten, und die Rechte aller wurden nicht respektiert“, sagte Piñera am Sonntagabend in einer Fernsehansprache.

Piñera verurteilte die Gewalt, egal von wem sie ausginge. „Es wird keine Straflosigkeit geben, weder für die, die außergewöhnliche Gewalttaten, noch für jene, die Misshandlungen und Übergriffe begangen haben“, kündigte er an, sprach aber zugleich den Carabineros seinen Dank für ihren Einsatz aus.

Bei den am 18. Oktober begonnenen Unruhen sind bisher mindestens 23 Menschen ums Leben gekommen. Nach der jüngsten Bilanz des autonomen, staatlichen Nationalen Instituts für Menschenrechte INDH vom 15. November wurden 6.362 Menschen vorübergehend festgenommen, darunter 759 Minderjährige. Unklar ist, wie viele weiter in Haft sitzen.

2.381 Menschen wurden verletzt, davon 1.360 vor allem durch Gummigeschosse, die bei 217 Personen zu schweren Augenverletzungen oder Verlust des Augenlichts führten. Bisher wurden in 329 Fällen Anzeigen erstattet, darunter vier wegen Mordes, sieben wegen versuchten Mordes und 246 wegen Folter, 58 wegen sexueller Gewalt und vier wegen Vergewaltigung.

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4 Kommentare

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  • "In einigen Fällen..." -- der übliche Zynismus halt.

    Immerhin aber: Frankreichs Macron ("es gibt keine Repression") könnte sich mal ein Scheibchen abschneiden. Auch dort gibt es Gummigeschosse.

    • 9G
      90618 (Profil gelöscht)
      @tomás zerolo:

      Gummigeschosse selbst sind generell gefährlich, aber ich bin nicht sicher, ob die in Chile und Frankreich vergleichbar sind, da in Chile

      "...eingesetzte Gummigeschosse lediglich zu 20 Prozent aus Kautschuk bestanden, aber zu 80 Prozent aus Verbindungen aus Kieselsäure, Bariumsulfat und Blei."

      Gilt das auch für die in Frankreich?

      • @90618 (Profil gelöscht):

        Die Munition in Frankreich ist mit Sicherheit nicht vergleichbar mit der in Chile. Wenigstens hoffe ich das, da die bisherige Zusammensetzung der Kugeln in Chile wirklich unverantwortlich ist.

        Die Regierung hat den Einsatz von Gummigeschossen offiziell ja nicht wegen der Verletzten, sondern wegen der Zusammensetzung der Munition extrem eingeschränkt.

        Interessant wäre zu ermitteln wer und wann die Munition gekauft wurde, ob und seit wann die Zusammensetzung bekannt war und wer für die Verwendung von dieser Munition im speziellen die Verantwortung übernehmen muss. Grade die Einkäufe würden mich interessieren.

        Offiziell ist die Zusammensetzung ja erst kürzlich nach einer Laboranalyse die von einem chilenischem Krankenhaus in Auftrag gegeben wurde bekannt geworden.

        Ob und wann Gummigeschosse zur Distanzeinhaltung zwischen Polizei und Protestierenden verwendet werden sollte ist eine schwierige Frage. In Deutschland haben beide Gewerkschaften der Polizei unterschiedliche Positionen.

        Fakt ist, dass mit solcher Mution auch unbeteiligte gefährdet werden, was im wesentlichen gegen demokratische Prinzipien verstösst.

        Auf der anderen Seite scheint ein Mittel zwischen Wasserwerfern und scharfer Munition doch irgendwie auch sein Berechtigung zu haben.

        Grade wenn sich die Staatsgewalt mit militanten und gewaltbereitend, bzw. bewaffneten Gruppen konfrontiert sieht.

        Schön wäre, wenn die Gummigeschosse überhaupt nicht nötig wären und oder das Konfliktmanagement Seitens der Staaten deeskalierender wirken würden. Wenn mit Murmeln, Steinen und Zwillen und Softairguns auf die Polizei geschossen wird und Brandsätze geworfen werden, dann wird es aber auch schwer ohne auszukommen.

        Es ist übrigens unglaublich schwer mit Gummigeschossen zu zielen, da die Streuung extrem ist. Spielt kaum eine Rolle wohin gezielt wird.



        Grade dies macht den Einsatz um so bedenklicher. Sollte wirklich eines der letzten Mittel sein.

      • @90618 (Profil gelöscht):

        Ich habe das recherchiert, konnte aber leider nichts definitives feststellen.

        Plastische und elastische Massen werden oft mit "Füllern" versetzt, um deren Eigenschaften zu beeinflussen. Ob das bei den französischen Fabrikaten ist, kann ich aber nicht sagen. Ein Einstiegspunkt wäre [1].

        Fest steht jedenfalls, dass sie (mitunter durch regelwidrige Anwendung -- etwa auf den Kopf zielen) zu furchtbaren Verletzungen führen [2]. Nachgewiesene Todesfälle gab es auch [3].

        [1] fr.wikipedia.org/w...(marque)#Munitions



        [2] www.leparisien.fr/...015-4577405.php[3] desarmons.net/inde...rera-pas-comme-ca/