Das war
: Küsschen mit Rampe

Kiss heißen die Züge, die ab 2022 zwischen Lübeck und Hamburg fahren sollen. Die schnuckelige Abkürzung steht für: Komfortabler innovativer spurtstarker S-Bahn-Zug. Nur: Für Menschen, die im Rollstuhl sitzen, sind die Wagen alles andere als komfortabel. Die Rampen am Einstieg seien zu steil, und bis ein Mensch im Rolli seinen sicheren Standplatz erreicht habe, müssten noch weitere Höhenunterschiede überwunden werden, klagen Selbsthilfeverbände.

Deren Bahnfachleute sitzen selbst im Rollstuhl und können damit gut einschätzen, welche Steigungen gut fahrbar sind und wo es unangenehm wird. Besonders pikant ist aus Sicht des Selbsthilfeverbandes, dass die Züge ausgerechnet in dem Jahr ihren Betrieb aufnehmen, in dem laut der UN-Behindertenrechtskonvention eigentlich Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr gelten sollte. Und aus Sicht des Verbandes bedeutet barrierefrei, dass ein Mensch im Rollstuhl ohne fremde Hilfe in den Wagen hinein und hinaus kommt.

Dabei haben die Betreibergesellschaft der Strecke, Nah.SH, und die Hersteller-Firma Stadler alles richtig gemacht. Der Steigungswinkel von 15 Grad entspricht den gesetzlichen Vorgaben. Nicht toll, aber trotzdem korrekt, findet auch der Behindertenbeauftragte des Landes.

Nah.SH, hinter dem das Land, die Kreise und kreisfreien Städte Schleswig-Holsteins stehen, nimmt die Kritik ernst – nur ändern kann der Betrieb wenig. Nicht böser Wille, sondern vorgegebene Abmessungen stehen im Weg. Bei den doppelstöckigen Wagen liegt der Einstieg 22 Zentimeter unterhalb des Bahnsteigs, darum braucht es eine Rampe. Und wäre diese Rampe flacher als die per Gesetz vorgeschriebene 15 Grad, müsste sie viel länger sein.

Aber warum nicht einen einstöckigen Wagen zwischen die Doppelstöcker hängen, fragt der Selbsthilfeverband. Nah.SH verweist darauf, dass damit Plätze verloren gingen, die auf der Pendelstrecke gebraucht werden.

Das ist eben das Dilemma der Verkehrswende: Immer mehr Leute begreifen, dass es nicht die geilste Idee ist, mit dem Auto in die Stadt zu kutschieren, sich in einen Stau zu stellen und jede Menge Abgase in die Luft zu blasen. Also suchen sie sich alternative Verkehrsmittel und es entstehen andere Verkehrsströme. Innerhalb der Städte wird es enger auf den Radwegen, zwischen den Städten herrscht mehr Gedränge in den Zügen. Das merken die, die als Avantgarde schon immer Verkehrsmittel jenseits des eigenen Wagens genutzt haben, in diesem Fall auch die Menschen im Rollstuhl. Damit ihnen der „Kiss“ etwas besser schmeckt, sollen die Rampen innerhalb der Wagen abgesenkt werden: Immerhin das hat ihre Kritik bewirkt. Esther Geißlinger