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: Brüche in der Akte

Ein forensisches Gutachten belegt: Der 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte Oury Jalloh wurde vor seinem Tod misshandelt. Dieses Puzzleteil fehlte bislang

Beerdigung Oury Jallohs im Jahr 2005. Sein Tod wirft mehr Fragen auf, als viele zu beantworten bereit sind. Foto: Marco del Pra

Von Christian Jakob

Warum, haben viele immer gefragt, hätten Polizisten in Oury Jallohs Zelle Feuer legen sollen? Welchen Grund könnte es für so eine Tat geben, für eine Tat, von der von Anfang an klar wäre, dass sie so viel Aufmerksamkeit erregen, so viele Fragen nach sich ziehen, so enorme Risiken für mögliche Mitwisser mit sich bringen würde? Kaum jemand vermochte darauf eine überzeugende Antwort zu geben.

Sicher, eine These stand schon lange im Raum: Jalloh könnte misshandelt worden sein – und das Feuer dazu gedacht, die Spuren dieser Misshandlung zu vernichten. Doch einen ausreichenden Beleg gab es für diesen ungeheuren Verdacht nie. Bis jetzt.

Seit Montag gibt es mehr als nur einen Verdacht. Es gibt eine ziemlich gut belegte Reihe von Indizien. Denn der 2005 in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte Oury Jalloh wurde vor seinem Tod schwer misshandelt. Dabei wurden ihm unter anderem Schädeldach, Nasenbein, Nasenscheidewand und eine Rippe gebrochen. Das ergibt ein neues forensisches Gutachten des Rechtsmediziners und Radiologie-Professors Boris Bodelle von der Universitätsklinik Frankfurt, das die taz einsehen konnte. Das Gutachten hatte die Initiative Gedenken an Oury Jalloh (IGOJ) in Auftrag gegeben.

Jalloh war zur Mittagszeit des 7. Januar 2005 in einer Gewahrsamszelle verbrannt. Zuvor, gegen 9.30 Uhr, war er von dem Dessauer Polizeiarzt Andreas Blodau untersucht worden. Der hatte keine Verletzungen bei Jalloh dokumentiert. Entsprechend müssen die Verletzungen zwischen der Untersuchung und dem Ausbruch des Feuers um 12.30 Uhr entstanden sein, schließt die IGOJ.

Vieles spricht nun für das Motiv Vertuschung

Es sei davon auszugehen, dass die Veränderungen „vor dem Todeseintritt entstanden sind“, heißt es im Gutachten. Entzündungen zeigten, dass Jalloh zum Zeitpunkt der Verletzungen noch gelebt haben muss, die Brüche also nicht etwa während der Löscharbeiten entstanden sein könnte.

Bislang war lediglich ein Bruch im Bereich des Nasenbeins Jallohs bekannt gewesen – auch dies nur durch ein privat von der IGOJ finanziertes Gutachten. Das hatte der inzwischen emeritierte Rechtsmedizin-Professor Hansjürgen Bratzke aus Frankfurt 2005 verfasst.

Doch Bratzke hatte offen gelassen, ob der Bruch des Nasenbeins vor dem Tod entstanden war – und hatte die anderen Verletzungen gar nicht thematisiert. Auch der Hallenser Rechtsmedizin-Professor Manfred Kleiber war mit dem Fall befasst, hatte die jetzt bekannt gewordenen Verletzungen aber nicht benannt. Während der mehrjährigen Gerichtsverfahren gegen Polizeibeamte des Reviers wurden sie nie offiziell festgestellt.

Die neuen Untersuchungsergebnisse sind deshalb von besonderer Bedeutung, weil sie eine Erklärung für den Umstand liefern, dass Jalloh offenbar in der Zelle mit Brandbeschleuniger angezündet worden ist. Diesen Tathergang hatte die Sachsen-anhaltische Justiz lange Zeit zurückgewiesen. Stattdessen wurde offiziell behauptet, dass Jalloh die Matratze am Boden der Gewahrsamszelle, auf der er mit Händen und Füßen gefesselt lag, selbst angezündet hatte. Es waren schwarze AktivistInnen und antirassistische Gruppen, die dies nicht glauben konnten. Die IGOJ hatte schon sehr früh Belege dafür gesammelt, dass dies nicht der Fall gewesen sein kann. Viele weitere Indizien für eine Tötung durch Dritte waren im Laufe zweier Prozesse zutage getreten.

Wollte das Gericht dem Gutachten zuvorkommen?

Nach Angaben der Initiative Gedenken an Oury Jalloh war dem Gericht das neue Gutachten bereits im September zugestellt worden

Im April 2017 schloss sich schließlich der Dessauer Staatsanwalt Folker Bittmann dieser Auffassung an: Er schreibt in einem Aktenvermerk, er gehe davon aus, dass Jalloh bereits vor Ausbruch des Feuers „mindestens handlungsunfähig oder sogar schon tot“ war. Vermutlich sei er mit Brandbeschleuniger besprüht und angezündet worden. Dies legten sechs Gutachter nahe, die Bittmann konsultiert hatte.

Auch Bittmann äußerte damals den Verdacht, dass Jalloh Verletzungen zugefügt wurden, die vertuscht werden sollten. Er benannte konkrete Verdächtige aus den Reihen der Dessauer Polizei.

Kurz darauf aber wurde Bittmann der Fall entzogen und an die Staatsanwaltschaft Halle abgegeben – und diese stellte das Verfahren ein. Am vergangenen Donnerstag wies das OLG Naumburg eine Beschwerde dagegen zurück und entschied: Es wird kein neues Verfahren in dem Fall geben. Dabei war dem Gericht das Gutachten bereits im September zugestellt worden.

In dem Dessauer Revier waren vor dem Tod Jallohs bereits zwei weitere Menschen im oder unmittelbar nach dem Gewahrsam unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen: 1997 starb Hans-Jürgen Rose, 2002 der Obdachlose Mario Bichtemann an schweren Verletzungen, nachdem sie in Dessau im Gewahrsam waren. Alle Verfahren wurden eingestellt. Teils handelte es sich bei den Beamten, die an jenen Tagen Dienst taten um dieselben, die mit Jalloh befasst waren.

Wäre mit Jalloh ein dritter Todesfall auf Gewalteinwirkung zurückzuführen gewesen, wären womöglich auch die Fälle Rose und Bichtemann wieder aufgerollt worden. Denn das könnte das Motiv für den Brand sein, dass sich in all den Jahren niemand vorstellen mochte.