Berliner Ausstellung zu Hubert Fichte: Anstacheln zur Empfindlichkeit
Videoinstallationen, Skulpturen, Gemälde: Mit „Liebe und Ethnologie“ wird die Arbeit des Schriftstellers und Ethnografen Hubert Fichte gewürdigt.
Wer war Hubert Fichte? Hamburger Schriftsteller und Ethnograf, geboren 1935, gestorben 1986. „Jüdisch und schwul“, wie er sich selbst stilisierte. Bereiste mehr als 15 Länder, auf der Suche nach wahrhaftiger Menschlichkeit. Die Art und Weise, wie er sich zeit seines Lebens mit Themen vorrangig der (Homo-)Sexualität und dem Erforschen verschiedener Kulturen und deren Praktiken auseinandersetzte, kann als wegweisend angesehen werden für die heutigen Queer und Postcolonial Studies.
Die aktuelle Ausstellung „Liebe und Ethnologie – die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit“ im Haus der Kulturen der Welt bildet den Abschluss eines Ausstellungsprojekts, das seit 2017 in Zusammenarbeit mit den Goethe-Instituten in Lissabon, Salvador da Bahia, Rio de Janeiro, Santiago de Chile, Dakar und New York entstand.
Orte, die Fichte gemeinsam mit seiner Frau, der Fotografin Leonore Mau, selbst besucht hat und die Eingang gefunden haben in seine Schriften – allen voran in seinen unfertig gebliebenen, posthum veröffentlichten Romanzyklus „Die Geschichte der Empfindlichkeit“. „Es bleibt unfasslich, dass ein so unneugieriges Europa entstand, für das Wissen selten etwas anderes war als Macht. Die Kolonialgeschichte Europas bleibt die Geschichte der Unempfindlichkeit“, schrieb Fichte.
Candomblé und Voodoo
Liebe und Ethnologie: Die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit (nach Hubert Fichte): Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin
täglich (außer Dienstag): 12-19 Uhr, Donnerstag: 12-22 Uhr, bis 6. Januar 2020
Seine Arbeit lässt sich also als Gegenentwurf verstehen zu ebendieser Unempfindlichkeit. Seine „teilnehmenden Beobachtungen“ insbesondere afrodiasporischer kultureller Praktiken wie des Candomblé oder des Voodoo beinhalteten auch (schwule) Sexualität.
Ausgewählte Texte Fichtes wurden 2017 auch ins Portugiesische, Englische, Französische, Spanische und Wolof übersetzt, sodass sein Werk auch an den Orten der Entstehung rezipiert werden und neue künstlerische Arbeiten entstehen konnten, welche nun in Berlin, kuratiert von Diedrich Diederichsen und Anselm Franke, zusammengeführt werden.
Was gibt es nun also zu sehen in der Ausstellung? Die Fülle von Material reicht von zeitgenössischen Video- und Toninstallationen über Skulpturen, Gemälden und Arbeiten von Künstler*innen, die in Fichtes Büchern auftauchen, bis zu Performances und Archivalien, die Fichtes Auseinandersetzungen mit für ihn bedeutsamen Persönlichkeiten dokumentieren.
Rituelle Praktiken, Psychoanalyse und Kunst
All dies findet immer wieder im Rückbezug auf die Protagonisten der „Geschichte der Empfindlichkeit“, Jäcki und Irma, statt, welche gleichzusetzen sind mit Fichte und Mau selbst. Zahlreiche Interviews dokumentieren das Zusammenspiel ritueller Praktiken, traditioneller Medizin, Psychoanalyse und Kunst in der Psychiatrie Afrikas; und es werden Wandmalereien des senegalesischen Künstlers Papisto Boy gezeigt, in denen Fichte den „ultimativen schöpferischen Ausdruck eines Palimpsests der Intertextualität“ sah.
Was er damit meinte? Beim Palimpsest wird keine eliminatorische Fortschrittsgeschichte festgesetzt, sondern frühere Stadien scheinen immer unter dem neuesten durch: „Die Geschichte der surrealistischen Revolution ist die Geschichte der Verschleppung von 12 Millionen Afrikanern in die Neue Welt“, schrieb Fichte dazu.
Die Ausstellung zeigt auch die lange Geschichte von „Murals“ in den USA. Direkt nebenan hängt ein großformatiges Gemälde des Malers Daniel Richter, der sich in seiner Arbeit wiederholt auf Fichte bezogen hat.
In dem Teil der Ausstellung, der sich mit Brasilien befasst, wird das Projekt „From the Archive Irma/Jäcki“ vorgestellt, das seit 2015 die dokumentarische Arbeit Fichtes und Maus in Brasilien fortsetzt: Während Fichte seinerzeit durch eine „Poesie des Faktischen“ die Politik der brasilianischen Militärdiktatur sichtbar machen wollte, wird heute mithilfe von Videoinstallationen die homophobe, misogyne und rassistische Tagespolitik von Präsident Bolsonaro vorgeführt.
Telefonieren mit Andy Warhol
Ein paar Meter weiter können Besucher*innen an einer der Hörstationen einem lustigen Telefonat lauschen, in dem Lil Picard, jüdisch-deutsche feministische Fotografin und eine Freundin Fichtes, ein Treffen zwischen Andy Warhol und ihm einfädelt. In Chile führte Fichte ein Interview mit dem Präsidenten Salvador Allende, dessen Politik er allerdings für schwulenfeindlich hielt.
Ob der Materialfülle ist man beim Durchlaufen der Ausstellung wie erschlagen: Man sollte unbedingt Zeit einplanen für den Besuch der Schau, viel Zeit. Nicht ohne Grund wird sie auch begleitet von einem umfangreichen Webjournal, einem Katalog und einer zweitägigen Konferenz.
Auch wenn diesen Rahmenbedingungen ein exklusiver Charakter anhaftet: Was die Schau neben vielen, auch erstaunlichen Rückbezügen vor allem zeigt, ist das Maß des Visionären in Fichtes Arbeit.
Ende der 60er, Anfang der 70er, als (Kultur-)Gremien und Botschafterposten noch von ehemaligen Nazis besetzt waren, das Thema Rassismus nicht aufgearbeitet war, hat Fichte Pionierarbeit auf dem Gebiet getan, das heute als „Postcolonial Studies“ bezeichnet wird. Und das, aber auch der Versuch, diese Arbeit in ihrem Umfang und ihrer Komplexität einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, verdient Respekt.
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