„Europa war und ist unentschieden“

Der Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky vermisst eine klare Haltung der EU gegenüber der türkischen Offensive in Nordsyrien

Sergey Lagodinsky (Mitte) bei einer Sitzung der Türkei-Delegation des Europaparlaments Foto: Europäisches Parlament

Interview Ali Çelikkan
und Oliver Kontny

Sergey Lagodinsky wurde im Mai 2019 als grüner Abgeordneter ins Europaparlament gewählt. Er ist Leiter der Delegation im Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei und stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses.

taz gazete: Herr Lagodinsky, wenn Sie das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und der Türkei in zwei Worten beschreiben müssten, welche wären das?

Sergey Lagodinsky: Unstrategische Partnerschaft. Wir wissen, dass wir Partner sind, aber wir wissen nicht, was das strategische Ziel ist. Soll das jetzt eine Mitgliedschaft werden oder nicht? Das weiß weder die türkische Gesellschaft noch die türkische Politik. Ansonsten wäre es nicht zum Einmarsch in Nordsyrien gekommen, der ganz klar ein Affront gegenüber der europäischen Art ist, Konfliktlösungen anzustreben. Insofern ist die Situation von beiden Seiten verschuldet, auch von der europäischen Seite.

Sie haben letzte Woche im EU-Parlament gesagt, Europa habe dabei versagt, Verantwortung für die Situation in Nordsyrien zu übernehmen.

Wir haben es nicht geschafft, eine gemeinsame außenpolitische Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Da haben wir einfach versagt. Wir haben weder Zuckerbrot noch Peitsche. Wir konnten der türkischen Gesellschaft weder eine positive Perspektive anbieten, noch werden wir wirklich gehört, wenn wir sagen: So geht das nicht.

Fing das nicht schon beim Umgang mit der türkischen Zivilgesellschaft in den letzten Jahren an?

Ich glaube schon, dass wir gerade in Deutschland an die aktive Zivilgesellschaft in der Türkei positive Signale gesendet haben. Natürlich kann man sich darüber streiten, ob es genug finanzielle Unterstützung gab oder rechtliche Hilfe für Menschen, die hierhergekommen sind. Aber grundsätzlich ist es für uns viel einfacher, mit dieser offenen, demokratieorientierten Zivilgesellschaft umzugehen, weil wir uns in ihr wiedererkennen. Wir tun uns schwer mit Diktatoren oder Autoritären, wie Herrn Erdoğan oder vielen anderen.

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Die dann einfach Fakten schaffen, die für viele Menschen katastrophal sind.

Aus meiner Sicht ist das ein Weckruf für uns alle, zu sagen: Bei der nächsten Krise, beim nächsten Konflikt müssen wir uns anders positionieren als Europäerinnen und Europäer. Wir müssen handlungsfähiger werden. Es kann nicht sein, dass wir, wie in der Situation mit Ungarn jetzt, eine Regierung haben, die aufgrund dieser animalischen Furcht vor Migration der Regierung Erdoğan den roten Teppich ausrollen will, egal, was die machen. Wir haben eine lange Verzögerungstaktik der ungarischen Regierung erlebt und danach zahnlose Ratsschlussfolgerungen wegen dieser Verzögerung. Wir müssen die Einstimmigkeit bei außenpolitischen Entscheidungen abschaffen.

Aber wäre die Türkei in Nordsyrien einmarschiert, wenn dort deutsche und französische Soldaten stationiert gewesen wären? Brauchen wir nicht vielleicht liberale Falken?

Auch hier finde ich, dass wir eine Handlungsfähigkeit mit Haltung brauchen. Aber das darf natürlich nicht in so eine neokonservative Außenpolitik abdriften, wie die USA sie verfolgt haben. Die Konsequenzen sehen wir im ganzen Nahen Osten, und der Konflikt in Syrien ist ein Teil davon. Ja, Europa wird in diesem globalen Umfeld nicht überleben können, wenn wir nicht an unserer Handlungsfähigkeit arbeiten. Aber das bedeutet nicht, dass wir nur auf Waffen setzen. Wie stellen wir uns als Europäer vor, als handlungsfähiger Akteur?

Und in diesem konkreten Fall?

Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Armee gebraucht hätte. Wir hätten klar und deutlich sagen müssen: Bis hierhin und nicht weiter, sonst werden gezielte Sanktio­nen eingeführt. Es hätten europaweit auch die bereits genehmigten Rüstungsexporte zurückgenommen werden müssen. Dual-Use-Technologien kann man reglementieren, bestimmte Oligarchen und Entscheidungsträger kann man bestrafen – etwa durch Einreiseverbote und die Einfrierung von Konten wie beim Magnitsky-Gesetz in den USA. Bei diesen gezielten Sanktionen mangelt es der EU im Fall Türkei an Willen.

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Aber statt abgestimmter Sanktionen gibt es eine zahnlose Resolution.

Sanktionen werfen eine moralische Frage und eine Effektivitätsfrage auf: Wollen wir denn die Bevölkerung des Landes bestrafen? Wer sind diejenigen, auf die wir Druck ausüben wollen? Es gibt Leute, die sagen: natürlich die Mehrheiten, die diese Regierungen wählen. Ich bin nicht der Meinung, dass Bürger*innen die primären Adressat*innen von Sanktionen sind und wir sie umerziehen sollen. Das finde ich etwas kolonialistisch. Deswegen finde ich gezielte und durchgerechnete Sanktionen wichtiger. Dafür sehe ich keine Hindernisse außer dem fehlenden Willen.

Im EU-Parlament haben Sie gesagt, wir müssen die Türkei zähmen. Wie soll das gelingen, wenn die im Prinzip sagt: Du bist ein Lauch, ich nehme dich nicht ernst?

Wir können jetzt nicht eine außenpolitische Handlungsfähigkeit projizieren, die wir gar nicht aufgebaut haben. Aber wir können die Hebel, die uns zustehen, zumindest androhen. Wir schaffen es ja nicht einmal, gemeinsam etwas anzudrohen. Und wenn es die EU nicht macht, dann muss es die Bundesrepublik machen, ganz ehrlich. Dann müssen wir auch die Hermesbürgschaften und bereits genehmigten Rüstungsexporte zurücknehmen.

Oder gar den umstrittenen Flüchtlingsdeal?

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Die Türkei hat mehr syrische Flüchtlinge aufgenommen als jedes europäische Land. Wir können nicht sagen, nur weil die Regierung in Ankara uns nicht passt, streichen wir die Gelder. Natürlich darf das europäische Geld nicht benutzt werden, um Menschen in diese Sicherheitszonen zu transferieren. Das ist eine humanitäre, aber auch eine demografische Frage. Außerdem finde ich es nicht tragbar, wenn Leute zurück in die Türkei geschickt werden, jetzt wo wir wissen, dass geplant ist, sie weiter nach Syrien zurückzuschicken. Das bedeutet ja, dass die Türkei kein sicheres Drittland mehr ist.

Gleichzeitig ist unklar, was mit den gefangenen IS-Kämpfer*innen aus Europa geschehen wird.

Man kann sich Gedanken über ein internationales Tribunal machen. Aber bis dahin haben wir keine andere Wahl, als unsere Bürgerinnen und Bürger zurückzuholen. Mir ist nicht klar, inwiefern wir als Rechtsstaat eigenen Bürgern eine Wiedereinreise verweigern und sie nicht vor unsere Gerichte stellen können. Wir haben dazu beigetragen, dass sie sich radikalisierten, indem wir ein Wachstumsfeld dafür geschaffen haben. Das sind unsere Produkte. Und damit müssen wir zurechtkommen, auch zur eigenen Verantwortung stehen.

Lesen Sie die Langversion des Interviews auf gazete.taz.de