die dritte meinung: Die EU muss genauer auf Norwegen blicken als bisher, sagt Carl Baudenbacher
Carl Baudenbacher
ist Präsident des Efta-Gerichtshofs a. D. und heute für die Kanzlei Monckton Chambers tätig.
Die norwegische Arbeits- und Sozialverwaltung (NAV) hat jahrelang geschuldete Sozialleistungen nicht ausbezahlt. Berechtigte wurden strafrechtlich verfolgt, einige sogar ins Gefängnis gesteckt. Das verletzte geltendes Recht des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), das inhaltsgleich mit EU-Recht ist.
Die NAV hat im Umgang mit den Schwächsten der Gesellschaft eine These wörtlich genommen, die der höchste juristische Beamte des Landes, Regierungsadvokat Fredrik Sejersted, einst aufgestellt hat: das Dogma vom „Handlungsraum“. Es besagt, dass der angeblich stets vorhandene Spielraum bei der Anwendung internationalen Rechts jederzeit systematisch zugunsten des Staates auszunutzen sei. Das aber verstößt gegen den Grundsatz, dass internationale Verträge nach Treu und Glauben umzusetzen sind.
Trotzdem wurde Sejersted mit dem Direktorenposten des Zentrums für Europäisches Recht der Universität Oslo belohnt. Von 2000 bis 2007 hatte er den norwegischen Staat bereits in richtungweisenden Fällen vor dem Efta-Gerichtshof vertreten, der dafür zuständig ist, die einheitliche Anwendung des EU-Rechts in den EWR-Mitgliedsstaaten Norwegen, Island und Liechtenstein zu sichern. Die meisten dieser Fälle verlor Sejersted. Seine spätere Position als Vorsitzender einer Kommission, die 2012 einen Bericht zum EWR verfasste, missbrauchte er, um dem Efta-Gerichtshof die früheren Niederlagen heimzuzahlen. Weil der Bericht aber nach dem Geschmack des politischen Establishments war, wurde er 2015 Regierungsadvokat. Seit je fordert seine Behörde die norwegischen Gerichte auf, dem Gerichtshof keine Fälle mehr zu schicken.
Die Efta-Überwachungsbehörde, die weitgehend von Oslo dominiert wird, hatte Kenntnis von dem NAV-Skandal – schaute aber, wie so oft, weg. Insgesamt hat Norwegen seine Pflichten aus dem EWR-Abkommen seit Langem nur unzureichend erfüllt. Auch wenn die EU Freude am norwegischen Ölgeld hat, wird sie künftig genauer hinschauen müssen.
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