: Ein Kind des Reichstags
In der NS-Zeit war im Bundestag eine provisorische Geburtsstation eingerichtet. Walter Waligora kam hier zur Welt – und trifft sich nun am Wochenende mit anderen „Reichtagsbabys“ im Parlament
Aus Berlin Simon Schramm
Walter Waligora kommt nicht oft zu seinem Geburtsort in Berlin, eigentlich nur dann, wenn er Besuch hat. Der will schließlich die Stadt sehen. Ist es dann so weit, gibt Waligora seinen Gästen eine Anweisung. „Nehmt mal Achtungshaltung an!“ Stolzer Blick. „Das ist mein Geburtsort.“ Im Sichtfeld: Touri-Schlangen, vier massive Ecktürme, eine Glaskuppel, „Dem Deutschen Volke“. Der Bundestag.
Walter Waligora, 75 Jahre alt, ist im Reichstagsgebäude auf die Welt gekommen – und er ist nicht der Einzige, bei dem es so in der Geburtsurkunde eingetragen ist. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, etwa zwischen 1943 bis 1945, hatte die Charité in einem Schutzbunker des nahe gelegenen Reichstag eine provisorische Geburtsstation eingerichtet, zum Schutz schwangerer Mütter bei einem Bombenalarm. „Immer wenn ein Luftangriff war, ist Mutter da hingerannt“, sagt Waligora.
Wie viele Kinder insgesamt im Bunker des Reichstages geboren wurden, ist unklar. Zwei Wissenschaftler gehen von „einigen hundert Berlinern“ aus. Bei Waligora war es am 8. September 1943 so weit. Er hat mit seiner Mutter nie im Detail darüber gesprochen, wie der Tag seiner Geburt abgelaufen ist, wie es für sie war, im Krieg für ein Baby und seinen vier Jahre alten Bruder zu sorgen. Heute ist Waligora beeindruckt, mit viel Bedeutung die Umstände seiner Geburt eigentlich aufgeladen sind.
Waligora sitzt mit seiner Frau im Wohnzimmer seiner Wohnung in Spandau. Manchmal, wenn die Erinnerungen an seinen Lebensweg nachlassen, brummt er ein bisschen vor sich hin. Fällt ihm wieder etwas ein, strahlt er mit seinen kräftigen Augen. Seine Eltern lebten damals in der Lübecker Straße, Tiergarten, rund drei Kilometer zum Reichstag. Waligora kann nur Vermutungen anstellen, was seine Mutter am Tag der Geburt durchmachen musste. Die Angst, im Krieg zu sterben, das Dröhnen der Angriffe, die einsetzenden Wehen, die Unsicherheit, zu Fuß zur Klinik zu kommen, die Angst, das Kind zu verlieren, die Erleichterung, Glücklichsein, neues Leben im Krieg, dann weiter überleben.
„Jetzt stell ich mir vor, dass es fürchterlich war“, sagt Waligora. Aber damals nach dem Krieg habe ihn das nicht interessiert. Stattdessen das Leben im Nachkriegsberlin: mit Freunden in den Ruinen spielen, mit Vater an der Havel angeln, Boxen in der Pubertät, 78-mal wird er in den Ring steigen. Als junger Mann geht er zum Straßenbau, arbeitet später bei der Straßenaufsicht, bekommt selbst eine Tochter. Spandau wird seine Heimat, bis heute.
Dass Waligora sein Geburtsort doch noch interessiert, liegt an Peter Stein. Der CDU-Bundestagsabgeordnete ist Architekt und sagt, er wolle sich auch immer damit beschäftigen, welche Geschichte in einem Gebäude steckt. Stein entdeckte die Geschichte der Geburtsstation und gab Schäuble Bescheid. Daraufhin lud der Bundestag im Frühjahr per Presseaufruf die „im Reichstag Geborenen“ zum Besuch im Parlament ein.
Ingrid Waligora las den Aufruf in der Zeitung, Walter gefiel die Idee. 14 Menschen haben sich insgesamt gemeldet. Nun, an diesem Sonntag, wenn Walter Waligora seinen 76. Geburtstag feiert und der Bundestag seinen Tag der offenen Tür hat, wird sie der Fahrdienst des Bundestags abholen und zur Feier und Sonderführung in das Parlament fahren. Angekündigt ist, dass auch eine Mutter mit ihrer Tochter kommen wird, die selber entbunden hat. Kürzlich waren die Waligoras schon im Keller des Bundestages. „Man sieht nichts mehr von der Station“, sagt Ingrid Waligora.
Die Geburt von Walter Waligora geschah in Not und unter Lebensgefahr wegen des Krieges eines nationalsozialistischen Diktators. Dort, wo Waligora geboren wurde, sitzen heute Abgeordnete, die selbst mit rassistischem Sprech zündeln, Menschen, die das „Dritte Reich“ als „Vogelschiss“ der Geschichte bezeichnen. Was hält Waligora davon? „Leute, die so etwas sagen, sind natürlich ein bisschen dumm. Finde ich albern. Die haben die Geschichte nicht richtig verfolgt. Hätten sie so etwas erlebt, würden sie wahrscheinlich was anderes denken. Krieg sollte nicht sein. Überhaupt alles, was mit Gewalt zu tun hat, sollte verschwinden.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen