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Der Herr der Wolle

Nach fünf Jahren Rot-Rot-Grün will die CDU in Thüringen endlich wieder regieren. Ihr Spitzenkandidat Mike Mohring hat Chancen, Ministerpräsident zu werden. Dafür würde er auch ein Vierer-Bündnis schmieden

Klare Positionen: CDU-Spitzenkandidat Mike Mohring stellt die Wahlkampfplakate seiner Partei vor Foto: Martin Schutt/dpa

Aus Apolda, Erfurt und Blankenhain Anja Maier

Als es Mike Mohring gar zu kalt wird, kauft er sich eine Mütze. Es ist Dezember 2018, der Thüringer CDU-Politiker ist zum Bundesparteitag nach Hamburg gereist. Angela Merkel hat sich vom Amt der Vorsitzenden zurückgezogen, die Saarländerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat den Chefinnenposten knapp gegen Friedrich Merz gewonnen. Mohring, fahl und abgemagert, ist während der drei Tage durch die Messehalle getigert, hat mit Parteifreunden und der Presse parliert und sehr dünn gelächelt. Dass er an Krebs erkrankt war, weiß da noch niemand.

Ein Dreivierteljahr später, im August 2019, steht Mike Mohring im Hof des Blankenhainer Schlosses und erzählt: von der Sanierung des Baus, von seinem Freund, dem Bürgermeister, der mit dem Konjunkturpaket der CDU-geführten Bundesregierung das 6.500-Einwohner-Städtchen in Thüringen wieder auf solide Beine gestellt hat. Schmal wirkt Mohring noch immer, doch mittlerweile ist er vom Krebs geheilt. Man soll, man kann das sehen. An diesem Spätsommertag führt er JournalistInnen aus Thüringen und Berlin seinen Wahlkreis vor – und damit auch sich selbst. Die Haare sind wieder da, auch das zarte Lächeln aus braunen Augen, das man nicht als gefällig missverstehen sollte.

Mike Mohring ist ein höflicher Politiker. Aber er ist auch angriffslustig. Ende Oktober will er für sich und die Thüringer CDU das schöne Eckbüro von Bodo Ramelow in der Erfurter Staatskanzlei zurückerobern, das die damalige CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht 2014 für den Herzensostler Ramelow räumen musste.

Denkbar wäre aber auch, dass am 28. Oktober – acht Wochen nach den für die CDU glimpflich verlaufenen Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg – bereits ganz andere Dynamiken in Deutschland walten, ganz andere politische Konstellationen möglich scheinen. Mike Mohring und seine Thüringer CDU könnten nach der Landtagswahl am 27. Oktober als Bewahrer der parlamentarischen Demokratie in Thüringen gebraucht werden. Nach Brandenburg und Sachsen werden die Optionen immer bunter, in Potsdam und Dresden ist von einer Kenia-Koalition die Rede. In Erfurt hingegen spekulieren manche gar von einer Simbabwe-Koalition. Es wäre Deutschlands erstes schwarz-rot-gelb-grünes Regierungsbündnis. Mike Mohring könnte ihr Anführer sein. Aber es würde verdammt knapp.

Neun Monate zuvor, an diesem Hamburger Parteitagswochenende, ist es kalt und stürmisch. Zu kalt für einen ernstlich erkrankten Mann. Also kauft Mike Mohring sich auf dem Weihnachtsmarkt eine Mütze. Und sieh mal an, was für ein Zufall! Die Mütze ist in Mohrings Heimatstadt Apolda hergestellt worden. Eine Seemannsmütze: dunkelblaue Wolle, Rundstrick mit Rippmuster. Ein freundlicher Wink aus Thüringen in turbulenten politischen Zeiten.

Mit Strickwaren aller Art kennt Mike Mohring sich aus. Wer wie er in Apolda aufgewachsen ist, versteht was vom Stricken, Nähen, Wirken. Das Städtchen Apolda im Ilmtal, zwanzig Kilometer östlich vom zauberhaften Weimar gelegen, hat 250 Jahre lang von der Textilherstellung gelebt, auch die Familie Mohring. Strümpfe, Uniformen, Fallschirme, Pullover – wie so vieles in Ostdeutschland endete auch diese Tradition nach 1990. Überlebt haben einige wenige Strickereien, von einst 3.000 Menschen finden heute nur noch ein paar hundert Apoldaer ihr Auskommen in diesem Gewerbe.

„Wir Mohrings kommen alle aus der Wolle“, erzählt der CDU-Chef also an diesem warmen Augustabend. Er wirkt regelrecht entflammt bei dem Thema. „Opa war Stricker, meine Oma war Näher.“ Und Enkel Mike, geboren zwei Tage vor Weihnachten 1971, sollte als junger Mann Pullovermodel werden. 2012 – er war längst Landespolitiker der CDU und Vorsitzender der Kreistagsfraktion – ließ er sich für einen Katalog fotografieren, um den regionalen Arbeitgeber zu unterstützen. Strickchic, zu DDR-Zeiten VEB Thüringer Obertrikotagen Apolda, hatte sich zwischenzeitlich den irgendwie weltläufiger klingenden Firmennamen „Louis Leonhardt“ zugelegt, dazu den Slogan „Alles echt“.

Die Landtagswahl in Thüringen: Simbabwe statt Rot-Rot-Grün?

Die Wahl Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg am 1. September wählt mit Thüringen ein drittes ostdeutsches Bundesland in diesem Herbst. Am 27. Oktober bestimmen die ThüringerInnen einen neuen Landtag.

Die Regierung Seit 2014 regiert in Erfurt eine rot-rot-grüne Koalition. Ministerpräsident ist der Linke Bodo Ramelow. Und der ist bei den ThüringerInnen beliebt. Nach einer Umfrage vom 22. August würden ihn 41 Prozent der Befragten direkt wählen. Für CDU-Landeschef Mike Mohring würden sich 15 Prozent entscheiden, könnte man den Ministerpräsidenten direkt wählen.

Die Umfragen Nach einer Insa-Umfrage vom 22. August könnte die Linkspartei bei der Landtagswahl stärkste Kraft werden. 26 Prozent der Befragten gaben an, die Partei von Ministerpräsident Ramelow wählen zu wollen. 24 Prozent würden für die CDU stimmen. Die AfD landet laut einer Umfrage für die Mediengruppe Thüringen mit 21 Prozent auf dem dritten Platz. Die Grünen kommen auf 11 Prozent, die Sozialdemokraten auf nur 9 Prozent. Die FDP würde mit 4 Prozent knapp den Einzug in den Landtag verpassen.

Die Farbenspiele Die rot-rot-grüne Koalition von Ministerpräsident Bodo Ramelow steht wohl vor dem Aus. Sie könnte, gemessen an den Wahlumfragen, nur eine Minderheitsregierung bilden. Wenn es die FDP in den Landtag schafft, wäre ein Viererbündnis aus CDU, SPD, Grüne und FDP möglich, die sogenannte Simbabwe-Koalition. Eine Koalition mit der AfD gilt als ausgeschlossen. (taz)

Im Strickchic-Katalog von 2012 posiert also Mike Mohring in Pullovern und Strickjacken. Er wirkt auf den Fotos fleißig und zugewandt, eher ein Schwiegermuttertyp als der machtbewusste Politjunkie, der er damals schon ist. Dunkle Augen, dunkles Haar, jede Menge Maschenmode. Daneben der Text: „Politiker müssen glaubwürdig und echt sein. So wie die Kollektion von Louis Leon­hardt. Zeitlos, hochwertig und ehrlich. Eben alles echt! Ihr Mike Mohring“

Die Sache mit der Ehrlichkeit und der Echtheit des Politikers Mike Mohring bekam nicht viel später tiefe Risse. 2014 war das, kurz nach der verlorenen Thüringer Landtagswahl, als der Spiegel eine Recherche über Mohrings Machtspielchen veröffentlichte. Überschrift: „Der Trickser“. Als Mitglied im CDU-Bundesvorstand hatte er ordentlich Ärger mit der Bundespartei bekommen. Damals, als die Partei sich noch als Einheit verstand, über Interna eisern schwieg, kam dies einer Ächtung nahe.

Entgegen einem Vorstandsbeschluss nämlich, nicht mit der AfD zusammenzuarbeiten, soll Mike Mohring mit dem frisch in den Erfurter Landtag eingezogenen Björn Höcke Gespräche darüber geführt haben, wie Bodo Ramelows Rot-Rot-Grün-Projekt doch noch zu verhindern wäre. Von einem Ministerpräsidenten Mohring soll die Rede gewesen sein, von Duldung durch die Rechten. Mohring schien damals zu ziemlich vielem bereit, um doch noch an die Macht zu kommen. Höcke nannte den damals 42-Jährigen raunend „den jungen Stürmer“.

Heute darauf angesprochen, widerspricht Mike Mohring entschieden. „Nein, nein, nein, nein“, sagt er und schüttelt den Kopf. Er habe unmittelbar nach der Landtagswahl 2014 ein einziges Gespräch mit dem Rechten geführt, „danach nie wieder und erst recht keine Koalitionsverhandlungen“. Dass diese eine Unterhaltung überhaupt öffentlich geworden sei, liege an einem verprellten Mitarbeiter, der das Gespräch abgehört haben soll.

Inzwischen, eine Wahlperiode später, ist Mike Mohring der Spitzenkandidat der Thüringer CDU und nicht mehr so naiv wie vor fünf Jahren. Schon lange vor der Wahl legt er Wert auf die Feststellung, dass seine Landespartei auf keinen Fall mit der AfD koalieren werde. Selbst der Chef der hiesigen Werte-Union, der unionsinternen Merkel-muss-weg-Fraktion, winkt beim Namen Höcke ab. Die Thüringer CDU, sagt der Geraer Rechtsanwalt Christian Sitter, müsse sich wieder auf eigene konservative Werte und Inhalte besinnen und so die AfD langfristig überflüssig machen. Das ist maximale Distanzierung in Zeiten mitunter minimaler Unterscheidbarkeit und zeugt von der Hausmacht des Spitzenkandidaten.

Noch vor neun Jahren war ausgerechnet ebendieser Mohring Mitglied einer winzigen Gruppe, die Spaltbewegungen wie der Werte-Union den Boden bereitet hatte. Im Januar 2010 kritisierten er und drei weitere CDU-LandespolitikerInnen Angela Merkel scharf für ihre Parteiführung. Die Bundestagswahl 2009 war mit 33,8 Prozent und einem damals noch als Katastrophe geltenden Minus von 1,4 Prozentpunkten gewonnen worden; es waren im Vergleich zu heute goldene Zeiten für CDU und CSU. Gleichwohl wurde damals – so wie heute auf Annegret Kramp-Karrenbauer – aus allen Rohren auf die noch recht neue Kohl-Nachfolgerin Merkel geschossen. Mike Mohring war vorne mit dabei.

Im Strickchic-Katalog von 2012 posiert also Mike Mohring in Pullovern und Strickjacken

In einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung forderten er, der Hesse Christean Wagner, die Brandenburgerin Saskia Ludwig und der Sachse Steffen Flath „Mehr Profil“ für die Union. Schon in diesem Text von 2010 jedenfalls geht es um die „Sozialdemokratisierung“ der CDU unter Angela Merkel, ein Narrativ, das so richtig wie denunziatorisch ist, wenn es um die eigene Partei geht. Wagner, Ludwig und Flath waren dann 2012 folgerichtig Gründungsmitglieder des ultrakonservativen „Berliner Kreises“. Der Anti-Merkel-Klub gilt als Vorläuferorganisation der heutigen „Werte-Union“, die als eine Art rechtsdrehende Graswurzel-Bewegung langsam, aber sicher zur Gefahr für den innerparteilichen Frieden unter Annegret Kramp-Karrenbauer geworden ist.

Mohring war 2010 klug genug, da nicht mehr mitzutun. Er war zu diesem Zeitpunkt Ende dreißig; er wollte noch was werden und es sah weiß Gott nicht so aus, als werde Angela Merkel demnächst den Parteivorsitz abgeben oder das Kanzleramt verlassen. Prompt wurde Mohring vom Parteitag Ende desselben Jahres in den CDU-Bundesvorstand gewählt. Nach seinem angedeuteten Techtelmechtel mit Björn Höcke im Nachgang zur Thüringer Landtagswahl 2014 jedoch war man dort am Ende mit ihrer Geduld: Beim Kölner Bundesparteitag flog Mohring wieder aus dem Vorstand raus.

Mittlerweile sind fünf Jahre ins Land gegangen. Mohring mäandert durch die Jahre. Mal spricht er sich für ein neues Verständnis von Patriotismus aus, dann wieder wirbt er für Zweckbündnisse mit den Grünen und wenig später wiederum für inhaltliche Auseinandersetzungen mit der AfD. Nach den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg, die für die CDU glimpflich gelaufen sind, hat er mit dem Finger auf die Bundespartei gezeigt und gesagt, es sei „nicht alles hilfreich aus Berlin gewesen“. Subtext: Das war schon okay, aber meine Landespartei braucht den ganzen Support. Und, das vor allem, keine Negativ­debatten um Rechtsausleger wie Hans-Georg Maaßen oder die Besteuerung von Diesel. Er hat am 27. Oktober, das ist ihm und jedem in Thüringen klar, exakt einen Versuch. Wenn der misslingt und wieder Bodo Ramelow in der Erfurter Regierungsstraße 73 residiert, kann er ganz schnell weg sein. In einer Landespartei findet sich immer jemand, der meint, es besser zu können.

Mike Mohring ähnelt in seinem Fleiß und seiner strategischen Arbeit seinem nordrhein-westfälischen Parteifreund Jens Spahn. Beide sind verhältnismäßig jung, sie sind machtbewusst und verkörpern jene in Netzwerken geschmiedete politische Flexibilität der Nachgeborenen, die die Union seit Jahrzehnten hervorbringt. Der hessische Hardliner Roland Koch war so jemand, der Sauerländer Friedrich Merz, der Rheinländer Wolfgang Bosbach. Allesamt Männer, die sich nicht zu früh zu klar bekennen wollen, um sich Machtoptionen offenhalten zu können. Mike Mohring ist ein Paradeexemplar dieses Politikertyps.

Doch jetzt gilt es: Sehr bald wird Mike Mohring zeigen müssen, wofür er steht und wie weit er bereit ist für die politische Macht zu gehen. Er ist seit dreißig Jahren in der Politik, mittlerweile ist er 47 Jahre alt. Er hat eine schwere Krankheit knapp überstanden und erfahren müssen, dass das Leben endlich ist. Er ist zu vielem bereit. Vieles in Thüringen hängt davon ab, ob die FDP es in den Landtag schafft. Kommt sie rein, könnte es tatsächlich die erste Regierungskoalition aus vier Parteien geben. Scheitert sie, sieht es gut aus für Ramelow und Genossen. In Brandenburg und Sachsen sind die Liberalen zuletzt gescheitert.

Es wäre Deutschlands erste schwarz-rot-gelb-grüne Regierung: eine sogenannte Simbabwe-Koalition

Mike Mohring will gewinnen. Auf seiner Reise durch den Wahlkreis sitzt in diesem Spätsommer 2019 ein jung wirkender Endvierziger im Reisebus, der dringend den Eindruck vermitteln möchte, richtig was reißen zu können. Politisch, wirtschaftlich, menschlich. Nach der Wende, erzählt er, sei hier in Thüringen „’ne Menge schief gelaufen“. Zu Mauerfallzeiten hat er – damals noch für das Neue Forum – die erste Montagsdemo in Apolda organisiert. Es war eine hitzige Zeit des Aufbruchs. Wenige Jahre später ist die Wolle in Apolda tot, „wir hatten hier dreißig Prozent Arbeitslosigkeit“. Heute gebe es nur noch 3 Prozent Arbeitslose und wieder Zuzug in die Region. Der Reisebus passiert bei seinen Worten das geschwungene Tor eines Luxus-Resorts.

Die romantisch in den Hügeln des Weimarer Landes gelegene Golfanlage gehört drei Brüdern aus dem Münsterland. Nach dem Mauerfall haben sie hier ihr Glück gemacht, haben in Blankenhain eine Granulatfabrik gebaut und hier für Leute wie Gerhard Schröder und andere PolitikerInnen einen Rückzugsort hingewuchtet, die in leicht überladenem Landhausambiente diskret ausspannen möchten.

Der Sauerländer Grafe, einer des ostwärts gewanderten Dreigestirns, umreißt kurz sein Verständnis als Unternehmer. Er lobt umfassend „den Mike“ und schmäht weitschweifig die aktuelle Landesregierung: „Die haben hier nicht das klassische Unternehmertum.“ Seit Bodo Ramelow in der Staatskanzlei regiere, herrsche in Thüringen „eine komische Stimmung: Wir haben hier ein rot-rot-grünes Versuchslabor für die Bundespolitik“, ist Grafe sicher. Weiter geht es mit der Feststellung, das Land sei „extrem ausgeblutet“.

Draußen auf der Terrasse genießen Golferpaare mit Pilotenbrillen und in farbenfrohen Daunenjacken bei einem Sundowner den Blick ins weite Thüringer Land. Mike Mohring lächelt und schweigt. In anderthalb Monaten weiß er, woran er mit seinen Thüringern ist. Und sie mit ihm.

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