piwik no script img

Utopie im Neubau

Die Blaue Karawane hat eine inklusives Wohnanlage in der Überseestadt gebaut. Vom chaotischen Charme des Netzwerks ist auf den ersten Blick nicht viel zu sehen – weniger radikal ist der Ansatz darum nicht

Von Jan-Paul Koopmann

Die Idee ist viel radikaler, als sie aussieht. Da steht ein millionenschwerer Neubaukomplex in der Überseestadt – zwar noch nicht ganz fertig, doch die ersten Mieter*innen sind schon drin. Das Areal ist riesig, fast 7.800 Quadratmeter groß. Und obwohl sich auf der Freifläche zwischen den drei Gebäuden noch Baumaterial im Matsch stapelt, braucht es nicht viel Fantasie, sich die opulente Grünanlage vorzustellen, die hier bald entstehen soll. Auf den ersten Blick unterscheidet den Bau aus Klinker und Holz gar nicht so viel von den Luxusbauten drumherum. Tatsächlich aber ist das „Blauhaus“ etwas ganz Eigenes, einmalig in Deutschland – und um es ganz dicke zu sagen: das Modell für eine bessere Gesellschaft.

Inklusives Wohnen steht auf dem Programm: für Menschen mit und ohne körperliche Behinderungen oder seelische Krisen. Studierende leben hier, Geflüchtete – Singles und Familien. Rund 170 Menschen werden hier bald in 76 Wohnungen und WGs zusammenleben. Manche sind gefördert, andere werden ganz normal vermietet.

Hinter dem hochmodernen Bauprojekt steckt die Blaue Karawane. Und die hat vor mehr als 30 Jahren einmal ganz unten angefangen: als Auffangbecken für Menschen, die aus der aufgelösten psychiatrischen Verwahranstalt Kloster Blankenburg bei Oldenburg entlassen worden waren. Bis heute kommen ständig neue Menschen dazu, die irgendwie durchs Netz gefallen sind. Die Karawane hat sich nicht nur gekümmert, sondern immer auch fundamentale Rechte eingefordert: mit Verve und mit reichlich chaotischem Charme. Für diese Leute, die früher mit einer riesigen blauen Kamelfigur mit einem Floß die Weser runtergeschippert sind, ist der Neubau jedenfalls ein gewaltiger Schritt.

„Am Anfang klang das schon ziemlich verrückt“, sagt Psychiater und Karawanengründer Klaus Pramann – und muss dabei auch heute noch grinsen. Es war ein langer Weg: 2007 entstand die Idee, wurde ständig wieder über den Haufen geworfen und neu gedacht. Wirklich konkret wurde es, als 2012 die Gewoba eingestiegen ist und auch Banken die Sache ernst nahmen. Wichtige Wegbegleiter waren sehr früh schon Bauunternehmer Klaus Hübotter und der ehemalige Staatsrat Arnold Knigge.

Was im Konzept harmlos freundlich als Alternative zu Heimen und betreutem Wohnen klingt, folgt bei aller Professionalisierung noch immer einem radikalen Ansatz: „Wir brauchen keine Heime“, sagt Pramann und meint das sehr grundsätzlich. Die Menschen aus den Anstalten zu holen war immer ein zentraler Punkt der Psychiatriereform – und steckt, wie viele Betroffene sagen, in einer Sackgasse. „Mehr Ambulanz leert keine Betten“, so Pramann, weil Kliniken und nach Marktgesetzen agierende Träger eben ihre Profite im Sinn hätten und nicht den Abbau ihrer rentablen Strukturen.

Mit dem Blauhaus denkt die Karawane die Inklusion nun von der anderen Seite: vom Wohnen und dem sozialen Umfeld her. Das Leben in Gemeinschaft soll institutionalisierte Betreuung ablösen. Wo sie dennoch nötig ist, sind im Blauhaus der Martinsclub und der Verein Inklusive WG mit an Bord.

In enger Zusammenarbeit mit zukünftigen Bewohner*innen haben die Architekt*innen des Blauhauses versucht, nicht nur die offensichtlichen Barrieren abzubauen: die Demenz-WG im Erdgeschoss hat etwa bewusst eine direkte Sichtachse zu den Kindern auf der anderen Seite der Grünfläche. Hier unterhält der Verein Quirl Kinderhäuser 65 Kitaplätze im Blauhaus.

Bei der Auswahl der Bewohner*innen kommt es der Blauen Karawane auf die richtige Mischung an. Es laufen noch ein paar letzte Bewerbungsverfahren und Kennenlernrunden, insbesondere Studierende werden noch gesucht. Um Inklusion und Miteinander auch über das eigene Haus zu fördern, soll die „Blaue Manege“ als eine Art Haus- und Stadtteilzentrum entstehen: Werkstätten und Veranstaltungsraum auch für die Nachbarschaft. Der Rohbau steht, mit Holz und viel Licht von oben. Es fehlt der Innenausbau. Um dafür Gelder bei Stiftungen einzuwerben, muss die Karawane rund 140.000 Euro Eigenmittel nachweisen, die sie natürlich nicht hat. Zur Zeit werden noch Spender gesucht, unter anderem mit einem Benefizabend am 20. September, für den namhafte Bremer Gastronomen das Menü stiften werden.

Das alles klingt ein wenig nach Utopie, ist aber, wie Pramann betont, lediglich die konsequente Umsetzung der EU-Behindertenrechtskonvention. Dass eine kleine Selbsthilfegruppe und soziale Vereine sich dafür auf den Kopf stellen müssen, ist natürlich kein Grund zur Freude – dass es bis hierhin geklappt hat, hingegen umso mehr.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen