: Aufklärung darf niemals aufhören
Die Dauerausstellung der Gedenkstätte Plötzensee ist neu eingerichtet: Sie gilt den in der Strafanstalt während der Zeit des Nationalsozialismus mehr als 2.800 ermordeten Menschen aus 20 Nationen
Von Annika Glunz
Wir befinden uns im Zweiten Weltkrieg. Vor einem bombengeschädigten Haus fährt ein hungriger Kutscher vor, entdeckt im Keller Fischkonserven. Er nimmt sich zwei – eine verdrückt er sofort, die andere nimmt er als Vorrat mit. Wenige Monate später wird wegen dieses Mundraubs das Todesurteil über ihn ausgesprochen, kurz darauf wird Albert Tamboer enthauptet.
Was aus heutiger Sicht unfassbar erscheinen mag, war in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, 1943 bis 1945, an der Tagesordnung. Das drakonische Kriegsstrafrecht ließ bei fast jeder strafbaren Handlung ein Todesurteil zu – selbst bei Plünderungen. Fälle wie der von Albert Tamboer stehen im Mittelpunkt der neu gestalteten Dauerausstellung in der Gedenkstätte Plötzensee. Zwischen 1933 und 1945 wurden hier mehr als 2.800 Gefangene aus 20 Nationen umgebracht. Die während der vorangegangenen Gerichtsverfahren verhängten Todesurteile folgten keinerlei rechtsstaatlichen Prinzipien, sondern waren nur noch justizförmige Tötungen.
Kriegsdienstverweigerer
Während der Gedenkveranstaltung anlässlich der feierlichen Eröffnung am 29. August informierte Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, die Anwesenden darüber, dass die größte Opfergruppe unter den wegen „Wehrkraftzersetzung und Eidesverweigerung“ zum Tode Verurteilten Zeugen Jehovas waren, die aus religiösen Gründen den Kriegsdienst ablehnten. Tötungen erfolgten am Galgen oder mit dem Fallbeil. Erschießungen erfolgten nur nach vorheriger Begnadigung. Tuchel wies ebenfalls darauf hin, dass die aktuelle Ausstellung auch über die Geschichte des Gedenkens in Plötzensee informiert – sie ist nämlich erst die dritte ihrer Art seit der Grundsteinlegung zur Gedenkstätte 1951. Beginnend mit allgemeinen Informationen über die Strafanstalt Plötzensee, die seit 1879 besteht, geht die Ausstellung direkt zur Zeit des Nationalsozialismus über. Im März 1933 ließ Hitler Sondergerichte für politische Straftaten einberufen. Verfahren vor Sondergerichten standen unter der Maxime äußerster Schnelligkeit, sodass auf der Stelle Haftbefehl erlassen werden konnte und gegen Festgenommene verhandelt wurde. Zudem hatten Verurteilte keinerlei Möglichkeit Rechtsmittel einzulegen. Die sachlichen Zuständigkeiten der Sondergerichte dehnten sich immer weiter aus. Damit einher gingen Strafverschärfungen und damit eine deutliche Zunahme von Todesurteilen.
Dies ist der Hintergrund, vor dem in Plötzensee die anfangs erwähnten 2.800 Gefangenen dem NS-Unrechtsstaat zum Opfer fielen und getötet wurden. Darunter war auch Liselotte Herrmann, die sich nach der Machtergreifung der Nazis einer Widerstandsgruppe angeschlossen und Informationen an kommunistische Organisationen im Ausland weitergeleitet hatte. Die Mutter eines einjährigen Sohnes wurde 1937 zum Tode verurteilt und im Jahr darauf trotz weltweiter Proteste enthauptet.
Das Prozedere vom Ausspruch bis zur Vollstreckung der Todesurteile wird ebenfalls genau erklärt: Nach Verkündigung des Todesurteils bestand noch die Möglichkeit eines Gnadengesuchs, welches jedoch zumeist abgelehnt wurde. Die Todeskandidat*innen wurden am Abend vor der Vollstreckung informiert und mussten die letzten Stunden ihres Lebens gefesselt in besonderen Zellen verbringen. Scharfrichter, die die Enthauptungen durchführten, verdienten 3.000 Reichsmark pro Jahr zuzüglich 60/65 Reichsmark pro Hinrichtung. Kosten für die Angehörigen: 1,50 Reichsmark pro Hafttag, 300 Reichsmark für die Hinrichtung, 12 Pfennige Portokosten für die Übersendung der Kostenrechnung.
Ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf den „Blutnächten“ im September 1943. Nachdem durch einen Bombenangriff Gebäudeteile der Strafanstalt schwer beschädigt worden waren, wurde die sofortige Vollstreckung aller Todesurteile angeordnet, „um Platz zu schaffen“, sodass in den Nächten vom 7. auf den 8. September 1943 186 Menschen gehängt wurden. Unter ihnen befanden sich auch acht Menschen, die gar nicht zum Tode verurteilt waren. Diese versehentlichen Morde wurden im Nachhinein aufwändig vertuscht. Am Ende des Rundgangs sind zahlreiche Versuche dokumentiert, Widerstand gegen das NS-Regime zu leisten. So wurde beispielsweise 1943 eine Gruppe mit dem Namen „Europäische Union“ gegründet, in der sich aus vielen europäischen Nationen stammende Zwangsarbeiter*innen vereinigten mit dem Ziel, eine gesamteuropäische sozialistische Nachkriegsordnung zu schaffen.
Nach ihrer Aufdeckung durch die Gestapo wurden alle Mitglieder der Gruppe entweder zum Tode verurteilt, – sie werden im KZ Auschwitz ermordet – oder sie starben nach der Befreiung an den Folgen der Haft. Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Erst 1998 wurden Urteile des Volksgerichtshofes und der Sondergerichte während der Zeit des Nationalsozialismus gesetzlich aufgehoben. Um es mit den Worten des Präsidenten des Berliner Kammergerichts, Bernd Pickel, bei der Gedenkveranstaltung zu sagen: Diese Ausstellung ist Aufklärungsarbeit. Und sie darf niemals aufhören.
Gedenkstätte Plötzensee, bis Oktober täglich 9 bis 17 Uhr, November bis Februar täglich 9 bis 16 Uhr
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