Prozess um Missbrauch in Lügde: Kinder haben noch immer Albträume

Der Prozess zu den Taten von Lügde kommt nur schleppend voran. Langsam wird Politik und Behörden bewusst, wie verbreitet organisierter Missbrauch ist.

Trümmer und Müll, Bretter und Latten sind um einen alten Campinganhänger zu sehen

Vom Tatort auf dem Campingplatz in Lügde ist nicht mehr viel übrig Foto: dpa

DETMOLD taz | Als Richterin Anke Grudda am Donnerstag um 9 Uhr die Verhandlung eröffnet, ist noch unklar, wie dieser Tag im Lügde-Prozess verlaufen wird. Andreas V., angeklagt wegen massenhaften sexuellen Missbrauchs, ist sichtlich angeschlagen. Gebeugt sitzt er auf der Anklagebank, sein Oberkörper und sein rechter Oberarm zittern, auf dem linken Oberarm sind heftige Kratzspuren zu sehen. Er wirkt grau und eingefallen, seit Dezember 2018 ist V. in Untersuchungshaft. Richterin Grudda fragt ihn: „Können Sie der Verhandlung folgen?“ Andreas V. schüttelt den Kopf, sein Anwalt Johannes Salmen sagt: „Nein, kann er nicht.“

Andreas V., 56, einer der beiden Hauptangeklagten, war vor zwei Wochen an Gürtelrose erkrankt, weshalb zunächst nur gegen den 34-jährigen Mario S. verhandelt werden konnte. Am Donnerstag sitzen nun wieder beide Hauptangeklagte im Saal 165 des Landgerichts in Detmold. Doch Andreas V. ist angeschlagen.

Und das ist ein Problem. Denn würde V., dem allein 298 Fälle sexueller Gewalt an Kindern vorgeworfen werden, erneut ausfallen, könnte das den Prozess unnötig verlängern, Opfer und Zeugen könnten erneut vor Gericht aussagen müssen. Das wollen alle Beteiligten vermeiden. Für die zum Teil kindlichen Opfer würde das eine erneute Qual und Retraumatisierung bedeuteten. Am Donnerstag sollten zum letzten Mal Kinder aussagen müssen, ein Mädchen war elf Jahre alt.

Während der Aussagen der Kinder ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Auch die beiden Angeklagten müssen während des gesamten Prozesses immer wieder den Gerichtssaal verlassen, wenn junge Opfer befragt werden. „Manche Opfer waren sehr jung“, gibt Norbert Freier vom Polizeipräsidium Bielefeld, einer der rund 80 in Lügde ermittelnden Beamten, zu Protokoll. Die Polizei hat laut Freier rund 1.000 Asservate im Wohnwagen von Andreas A. sichergestellt: Kinderwäsche, Sexspielzeug, Spielzeug. Der Zustand im Wohnwagen, sagt Freier, sei „katastrophal“ gewesen: „Voller Müll, Möbel, Schrott.“ Die Beweismittel seien in einem Lkw abtransportiert worden. Außerdem habe die Polizei bei Andreas V. Datenträger mit einem Volumen von insgesamt bis zu 14 Terabyte eingesammelt.

Andreas V. hält durch, er bleibt im Gerichtssaal. Gegen 11 Uhr bitten er und sein Verteidiger Salmen darum, früher als ärztlich verordnet und mit dem Gericht vereinbart, Schmerzmittel nehmen zu dürfen. Richterin Grudda stimmt zu.

Alle Kinder hätten Angst, dass „der Addi“, so wie Andreas V. auf dem Campingplatz genannt wurde, ihnen wieder etwas antun könnte, wenn er aus dem Gefängnis entlassen wird

Dann liest die Richterin weiter Gutachten und Stellungnahmen von Anwält*innen, Therapeut*innen und Mitarbeiter*innen von Schutzeinrichtungen vor, in denen manche der Opfer untergebracht sind. Alle Kinder hätten immer wieder Albträume, sie seien unruhig und nervös, manche seien in der Schule so schlecht, dass sie eine Klasse wiederholen müssten. Alle Kinder hätten Angst, dass „der Addi“, so wie Andreas V. auf dem Campingplatz genannt wurde, ihnen wieder etwas antun könnte, wenn er aus dem Gefängnis entlassen wird. Er soll für immer eingesperrt bleiben, lässt sich der Wunsch der Kinder zusammenfassen. Sie fürchten, Andreas V. könne aus dem Gefängnis fliehen und sie suchen. In diesem Fall werde sich ein Mädchen „für immer unter meinem Bett verstecken“, liest Richterin Grudda dessen Aussage vor.

An den Prozesstagen herrscht um das Detmolder Gerichtsgebäude herum stets große Aufregung. Opfergruppen und Betroffenenvertretungen machen auf die Situation von Kindern, die sexuelle Gewalt erlebt haben und noch erleben, aufmerksam.

Das Bundeskriminalamt (BKA) spricht allein im vergangenen Jahr von 14.606 Fällen, das sind im Schnitt 40 Kinder pro Tag. Die Dunkelziffer sei, so BKA-Chef Holger Münch, um ein Vielfaches höher. Eine Betroffenengruppe veröffentlichte am Donnerstag ein Papier, das darauf hinweist, dass es sich bei Missbrauch „keineswegs um eine neue Art von Verbrechen an Kindern handelt“. Aber erst langsam dringe „ins Bewusstsein von Politik, Behörden und Allgemeinheit, wie verbreitet organisierter Missbrauch ist“, sagt Angelika Oetken, eine der Autor*innen des Papiers und Sprecherin des Betroffenenbeirats beim Fonds Sexueller Missbrauch.

Bis zu 15 Jahren Gefängnis drohen den Angeklagten

Andreas V. sitzt weiter zitternd auf der Anklagebank, gegen Mittag beurlaubt Richterin den Angeklagten. Am Donnerstagnachmittag, wenn ein psychiatrisches Gutachten zu Mario S. verlesen wird, wird Andreas V. ohnehin nicht gebraucht.

Am Freitagmorgen soll es weitergehen. Dann sollen das psychiatrische Gutachten zu Andreas V. sowie das Plädoyer der Staatsanwaltschaft und die ersten Plädoyers der Nebenklage verlesen werden. Die Urteile gegen Andreas V. und Heiko S. werden vermutlich Anfang September fallen. Beiden Angeklagten könnten bis zu 15 Jahre Gefängnis und anschließende Sicherungsverwahrung drohen. Ob die Urteile so hart ausfallen, ist fraglich. Ein dritter Angeklagter, Heiko V., der nicht aktiv auf dem Campingplatz beteiligt war, aber die Taten mehrfach live im Internet verfolgt und Tausende Dateien mit kinderpornografischem Material besessen hat, ist zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe verurteilt worden.

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