Landtagswahlen in Ostdeutschland: Wer macht Musik wie Ringo? Ingo!

Der Spitzenkandidat der CDU in Brandenburg mag die Linke lieber als die AfD und hat ein Lied wie kein anderer. Auf Wanderschaft mit Ingo Senftleben.

Eine Gruppe Mäner und Frauen laufen durch einen Wald

Ende Juni in Großkmehlen: Der Spitzenkandidat der CDU, Ingo Senftleben, startet seine Wahlwanderung Foto: dpa

ORANIENBURG/BAD SAAROW/POTSDAM taz | An einem knallheißen Julisamstag rollt Ingo Senftlebens Dienstlimousine im Schritttempo eine Seitenstraße entlang zum Parkplatz hinter dem Oranienburger Schloss. Senftleben – weißes T-Shirt, blaue Jeans, weißer Strohhut, graue Trekkingschuhe – hat sich ein paar Meter vorher absetzen lassen und kommt nun zu Fuß auf das im Schatten wartende Grüppchen örtlicher CDUler zu. Das Bild muss stimmen – schließlich wandert der Landesvorsitzende der CDU seit Ende Juni durch Brandenburg. „Bock auf Brandenburg“ heißt seine Tour – es geht da vordergründig um Heimat, Identität und Erdverbundenheit. Eigentlich aber um den politischen Wechsel bei der Landtagswahl am 1. September. Ingo Senftleben möchte der erste CDU-Ministerpräsident werden.

Er sei, sagt der Landesvorsitzende nun erst einmal zur Begrüßung, auch schon seit ein paar Wochen unterwegs und rechtschaffen müde. Laufen, paddeln, radeln, mit der Draisine über stillgelegte Bahngleise durch dünn besiedelte Waldgebiete kurven – es ist kraftraubend, den Brandenburger Wähler aufzuspüren, zumal in den Sommerferien. Gestern Bernau, heute Oranienburg, morgen die Uckermark. Zwischendurch muss er auch mal nach Hause nach Ortrand, ganz im Süden des Flächenlandes, seine Wäsche wechseln. Ingo Senftleben fragt also vorsichtig: „Was is’n jetzt hier geplant?“

Geplant haben seine Oberhaveler Parteifreunde um die Direktkandidatin Nicole Walter-Mundt einen Rundgang durch den tiptop gepflegten Schlosspark. Schade, dass man dafür Eintritt bezahlen muss, was die Zahl der im Park anzutreffenden BürgerInnen erheblich begrenzen dürfte. Noch mehr schade, dass auf dem gesamten Parkgelände politische Werbung verboten ist. Das, was normalerweise unter Wahlkampf verstanden wird – ein Flyer, ein Kuli, Luftballon für die Kinder, ein Gespräch –, fällt also schon mal aus.

Statt nun also seine Oranienburger Parteifreunde davon zu überzeugen, dass es vielleicht besser wäre, die mittags einkaufenden OranienburgerInnen im nahen Stadtzentrum abzupassen, ergibt sich Ingo Senftleben widerspruchslos in sein Schicksal. Auf in den Park, um dort genau niemanden von der CDU Brandenburg zu überzeugen.

Sechs Wochen im Osten: Vor der Landtagswahl in Sachsen am 1. September 2019 war die taz in Dresden. Seit dem 22. Juli waren wir mit einer eigenen Redaktion vor Ort. Auch in Brandenburg und Thüringen sind bzw. waren wir vor den Landtagswahlen mit unserem #tazost-Schwerpunkt ganz nah dran – auf taz.de, bei Instagram, Facebook und Periscope. Über ihre neuesten Erlebnisse schreiben und sprechen unsere Journalist*innen im Ostblog und im Ostcast. Begleitend zur Berichterstattung gibt es taz Gespräche in Frankfurt (Oder), Dresden, Wurzen und Grimma. Alle Infos zur taz Ost finden Sie auf taz.de/ost.

Dass Ingo Senftleben aktuell erschöpft und wenig durchsetzungsfähig wirkt, kann man verstehen. Der 44 Jahre alte Lausitzer ist vor vier Jahren als große politische Hoffnung gestartet. Er hat seinen notorisch streitsüchtigen Landesverband eingenordet und in den zurückliegenden Jahren der rot-roten Koalition ordentliche Oppositionsarbeit geleistet. Er hat sich umgeben mit jungen CDUlern und die Altvorderen dabei kräftig vergrätzt. Hat dafür gesorgt, dass im Brandenburgischen Boys Club endlich auch Frauen zum Zuge kommen, und ist in der Geflüchtetenkrise anständig geblieben. Senftleben hat die Bildungspolitik zu seinem Herzensthema gemacht und – unter nicht allzu großem Widerstand selbst der SPD – die bei den WählerInnen verhasste Kreisgebietsreform gestoppt.

Und jetzt? Liegt seine Partei einen Monat vor der Landtagswahl gerade mal auf dem vierten Platz. Und Ingo Senftleben hat – dies ist möglicherweise sein weitaus größeres Problem – weite Teile der eigenen Partei gegen sich.

Bei der Landesvertreterversammlung Mitte Juni in Potsdam haben ihm seine Abgeordneten mal gezeigt, wo der Hammer hängt. In völliger Verkennung der Stimmung in Fraktion und Partei und ohne vorher die nötigen Absprachen mit den Kreisvorsitzenden zu treffen, hatte Senftleben in Potsdam seine Landesliste für den 1. September präsentiert. Altvordere oder Abgeordnete mit mäßiger Bilanz hatte er auf hintere Plätze gesetzt, um vorn Platz für Frauen und neue Gesichter zu machen. Platz 2, 4 und 6 hatte Senftleben für moderne Politikerinnen reserviert, selbst die Rechtsauslegerin Saskia Ludwig hatte Senftleben mit Platz 8 einzubinden versucht.

Die Alten schrotten seine Pläne

Den alten Kämpen reichten 24 Stunden und ein paar Telefonate, um Senftlebens Liste zu schrotten. Von den Frauen überlebten nur die liberalkonservative Landtagsabgeordnete Kristy Augustin auf Platz 2 und Saskia Ludwig. Alle anderen wurden nach hinten durchgestimmt, damit jene Männer keine Angst vor dem Mandatsverlust haben müssen, die seit Jahrzehnten dafür sorgen, dass alles so lauwarm bleibt, wie es immer war bei der Brandenburger CDU. Die von Platz 18 auf den eher aussichtslosen Platz 26 durchgereichte Landtagsabgeordnete Anja Schmollack schrieb hernach auf Facebook von einer „Brandenburger Schlachteplatte“. Und: „Wir sind weder fähig noch willig, Regierungsverantwortung zu tragen. Das ist mein Fazit des Tages.“

Wahlkampfsong von Ingo Senftleben

„Wer macht auch die Bauern froh? Ingo! Ingo!

Haut Verbrechern auf den Po? Ingo! Ingo!“

Als sei es damit nicht genug, bescherten die LandesvertreterInnen ihrem Vorsitzenden ein Ergebnis, das einem Misstrauensvotum sehr nahe kommt. Für Senftleben votierten 82 Delegierte, 30 stimmten mit Nein, es gab sechs Enthaltungen. Das sind 69,5 Prozent, ohne Gegenkandidaten. Ein historisch schlechtes Ergebnis.

Dies also ist die Hypothek, die der Kandidat in seinem Wanderrucksack durch Brandenburg trägt. Seine eigene Partei unterstützt ihn nicht. Und die Umfragen sind auch bescheiden. Aktuell liegt die CDU auf Platz 4 in den Umfragen, hinter AfD, SPD und Linken. Das ist weit entfernt von Senftlebens Ankündigung, mit ihm werde die Partei „dieses Land übernehmen als Regierungspartei Nummer eins“. Aktuell sieht es in Potsdam verdammt nach Rot-Rot-Grün aus.

Über all diese Trübsal kann auch nicht der knalllustige Countrysong hinwegtäuschen, den ein Prignitzer Parteifreund für den Spitzenkandidaten komponiert hat und der an die Öffentlichkeit lanciert worden war:

„Wer macht auch die Bauern froh? Ingo! Ingo!“

„Haut Verbrechern auf den Po? Ingo! Ingo!“

„Wer schickt die Wölfe in den Zoo? Ingo! Ingo!“

Die Häme, die anschließend über Senftleben hereinbrach, war episch. In Zeiten, da die völkische Rechte sich anschickt, stärkste Partei zu werden und Senftlebens ChristdemokratInnen vorsorglich über Koalitionen selbst mit der Linken nachzudenken beginnen, wirkt der Schunkelhit unangemessen. Selbst für jemanden wie Ingo Senftleben, den nur jedeR dritte BrandenburgerIn überhaupt kennt und der deshalb mit allen Mitteln kämpfen muss.

Er redet über eine Koalition mit der Linken

Senftleben hat gleich zu Beginn seines Wahlkampfs öffentlich über eine pragmatische Koalition mit der Brandenburger Linken nachgedacht und sich dafür viel Empörung und Einzelgespräche mit dem Konrad-Adenauer-Haus eingefangen. Er ist das Risiko eingegangen, für die politische Macht als Kommunistenstreichler dazustehen. „Wenn mich jemand aus den alten Ländern belehren möchte, sage ich, dass ich keine Nachhilfe brauche“, sagt er, darauf angesprochen. „Die Frage bleibt trotzdem, wie viele Generationen nach dem Mauerfall wir uns noch feindlich gegenüberstehen sollen.“

Bereits mehrfach hat er zudem öffentlich erklärt:„Für mich ist eine Koalition mit der AfD nicht denkbar, nicht heute, nicht morgen und auch nicht übermorgen.“ Im Umkehrschluss bedeutet dies aber auch: mit ihm nicht – aber vielleicht mit einem anderen CDU-Landeschef?

Dass seine eigenen Leute diesen politischen Pragmatismus gegen ihn verwenden würden, hat er nicht kommen sehen. Selbst Beobachter, die bis vor Kurzem noch dem jungenhaften Spitzenkandidaten zugetraut haben, den leutseligen, aber blassen SPD-Ministerpräsidenten Dietmar Woidke abzulösen, sind mittlerweile ernüchtert. Der Maurer aus der Launitz, der begabte Jungpolitiker mit den drei Kindern und der Herkunft aus der tiefsten Provinz, bräuchte in den nächsten Wochen etwas wie ein Wunder.

Potenzielle Wählerin

„Ick ess hier meine olle Salatschrippe und les die ‚Bild‘ – mehr brauch ick nich in meinem Alter“

Der Abstieg vom mutigen Ingo Senftleben zum verzagten Wandersmann ist erst in den zurückliegenden Wochen erfolgt. Zwei Monate vor dem Termin in Oranienburg sitzt Ingo Senftleben am Küchentisch seiner Großeltern. Wie andere PolitikerInnen im Osten reist er mit einem Familienmöbel durchs Land, um bei Stulle, Bier und Knackwurst mit den BürgerInnen ins Gespräch zu kommen. Den Tisch von zu Hause hinzustellen, das soll Wertschätzung signalisieren und Nähe. In Bad Saarow, neunzig Kilometer östlich von Potsdam, sind dreißig Leute ins Hotel am alten Kaiserbahnhof gekommen. Sie wollen hören, was der CDU-Mann für Ideen für Brandenburg hat. Auf die Bühne des Gründerzeitbaus haben seine Mitarbeiter in riesigen Lettern das Wort HEIMAT gestellt.

„Keine langen Reden“, macht Ingo Senftleben den Anfang, „wir machen es so wie zu Hause am Familientisch: Alles kann angesprochen werden, alle sollen zu Wort kommen und alle sollen zuhören.“ Eine Frau findet, es brauche mehr Anerkennung für die Ehrenamtlichen in Brandenburg. Eine andere fragt nach, ob es stimmt, dass die EU-Förderung für den Bau von Gemeindehäusern ausläuft. Ein Unternehmer klagt über die ausufernde Bürokratie. Eine Dame möchte wissen, warum der Chaosflughafen Berlin-Brandenburg nicht kurzerhand wieder abgerissen wird und – das vor allem – warum niemand für diesen politischen Totalausfall bestraft wird. Eine Mutter beschwert sich über den Zickzackkurs in der Brandenburger Landespolitik.

Ingo Senftleben antwortet Punkt für Punkt. Er tut das mit Verve und durchaus auch mit Witz, verknüpft die Antworten mit seiner eigenen Biografie: seinem Maurerberuf, seinen drei Kindern, erzählt, dass seine Rindsrouladen ganz ordentlich seien. Er kann alles versprechen und muss sich für nichts verantworten – Brandenburgs CDU gehört seit zehn Jahren keiner Landesregierung mehr an.

Wahlkampf mit Gurke

Ab und zu beißt Ingo Senftleben dabei in die Spreewaldgurke, die vor ihm auf der Brandenburger Schlachteplatte neben der Rotwurst und dem Bratenaufschnitt liegt und zu der er die BürgerInnen eingeladen hat. Er weiß an diesem Maiabend noch nicht, dass seine eigene Partei bald zur Schlachteplatte werden wird.

Der Mensch Ingo Senftleben, 44, wurde 1974 in Großenhain, Sachsen, geboren. Er wuchs in der Oberlausitz auf und lebt dort mit seiner Frau und drei Kindern. Er ist gelernter Maurer und arbeitete bis Ende der 90er Jahre als Brückenbauer, später qualifizierte er sich zum Hochbautechniker und war Geschäftsführer einer Bildungseinrichtung. Von 2003 bis 2014 war er Bürgermeister der Kleinstadt Ortrand. Seit 22 Jahren ist Senftleben CDU-Mitglied, seit 2005 Mitglied im Landesvorstand, seit November 2014 Vorsitzender der CDU-Landtagsfraktion Bran­denburg. Bei den Landtagswahlen 2004, 2009 und 2014 wurde er in seinem Wahlkreis Oberspreewald-Lausitz direkt gewählt. Im Landtag befasste er sich viel mit Bildungs- und Strukturpolitik, er war Mitglied in Ausschüssen zur Braunkohlepolitik und zum Flughafen Berlin-Brandenburg.

Der Kandidat Ingo Senftleben ist der Spitzenkandidat der CDU Brandenburg und möchte Ministerpräsident werden. Nach einem Erfolg bei der Wahl würde er „aus Respekt vor den Wählern“ mit allen Parteien reden – auch mit der AfD. Eine Zusammenarbeit mit der AfD schließt er klar aus, nicht aber mit der Linken. Das Land brauche einen Wechsel, sagt Senftleben: „Die SPD ist momentan einfach durch.“

Die Wahl Die BrandenburgerInnen wählen am 1. September einen neuen Landtag. In dem Flächenland regiert seit 29 Jahren die SPD, seit fünf Jahren führt Dieter Woidke eine rot-rote Koalition. Die Ausgangslage für Koalitionen ist schwierig. Laut den letzten Umfragen liegt die AfD mit 21,3 Prozent vorn, gefolgt von der SPD mit 17,1. Es folgen die Linke (16,9), CDU (16,3) und Grüne (15,1). Unklar ist, ob die FDP es in den Landtag schafft. Momentan würde es für Rot-Rot-Grün reichen. (am)

Nach dem Küchentischgespräch – auf dem Platz vor dem Bahnhof senkt sich die Dunkelheit – hat Ingo Senftleben noch Zeit für ein Gespräch. Immer wieder wird er angegriffen, weil er eine Koalition mit der Linken in Brandenburg nicht ausschließen mag. In der Bundespartei fragen sie sich, ob der Senftleben aus dem Osten für die Macht das eherne Gesetz der Konservativen brechen würde: keine Zusammenarbeit mit den Roten.

Ingo Senftleben schaut aus dunklen Augen. Er kennt diesen Schnack in und auswendig. Er sei sich, antwortet er, „des Risikos bewusst“. Und: „Ich hole mir keine Weisungen von Angela Merkel und Annegret Kramp-Karrenbauer ab.“ Er hat ja recht. Am Tag nach der Wahl möchte er als Gewinner statt als Verlierer neben der Parteivorsitzenden im Konrad-Adenauer-Haus aufkreuzen. Er dreht an seinem Cola-Glas und setzt nach: „Ich habe nicht gesagt, dass ich mit den Linken koalieren will. Ich habe den Anspruch, stärkste Kraft zu werden.“ An diesem Abend im Mai klingt Ingo Senftleben beharrlich. Er will kämpfen, er muss.

Und er kämpft. Vier Wochen hat er noch bis zum Wahltag. Im Oranienburger Schlosspark herrschen mittlerweile dreißig Grad im Schatten, Senftleben und die Parteifreunde aus Oberhavel streifen durch die Rabatten. Keine BürgerInnen, keine WählerInnen. Nur Hitze und eine defekte Fontäne im Schlossparkteich. Geduldig lässt sich der Spitzenkandidat das – wegen der Ferien leicht verwilderte – Grüne Klassenzimmer der nahen Grundschule zeigen. Ah, die Tomaten! Sehr schön, die Gurken. Sieh an, ein Bienenstock!

Neben ihm steht die Oberhaveler Landtagskandidatin Nicole Walter-Mundt und lächelt unbeirrt. Walter-Mundt – schwarzes Polohemd, weiße Hose, weinrotes NWM-Basecap – kandidiert auf Platz 16 der Landesliste. Die 41 Jahre alte Hausfrau und Mutter von zwei Kindern hat gute Chancen, im nächsten Landtag zu sitzen. „Mein Ziel ist das Direktmandat“, sagt sie selbstbewusst lächelnd.

Vor elf Jahren ist sie in die CDU eingetreten, sie ist Kreisvorsitzende der Frauen-Union, kümmert sich im Sozialausschuss um die Anliegen von Familien, Bedürftigen, Alten. „Allein hier in der Stadt legen wir ein Sechzigmillionenpaket für Kitas und Schulen auf. Wir sind nah an Berlin und wachsen.“ Der Spitzenkandidat nickt, sein Social-Media-Mitarbeiter schießt Fotos. In Ingo Senftlebens „Tourtagebuch“ wird später stehen: „Die Oranienburger Luft ist wie damals bei Fontane: ,warm und weich'. Na siehste!“

Hinter einer Hecke wird nun eine Bürgerin ausgemacht. Mit eingetuppertem Obst, Wasser und der Bild-Zeitung hat sie es sich bequem gemacht. Über ein bisschen Abwechslung freut sie sich hörbar. „Ick werde 83“, sagt die Bürgerin und strahlt aus hellen Augen übers ganze braungebrannte Gesicht. Ihre Haare hat sie schön toupiert, die Füße hochgelegt. „Die Nicole“ kennt sie natürlich. „Ganz die Mutti!“, lobt sie die Landtagskandidatin. Und redet weiter.

Drei Söhne habe sie allein großgezogen, vierzig Jahre gearbeitet. Zudem sei sie: ein großer Rügen-Fan, ein ganz großer Fan der dortigen Störtebeker-Festspiele sowie ein Riesenfan des Hauptdarstellers und Entertainers Wolfgang „Lippi“ Lippert. Um sich die Rügen-Reisen leisten zu können, geht sie dreimal in der Woche in Berlin putzen. „Ich bin ja in der DDR geschieden worden und habe deshalb ’ne kleinere Rente, als mir zustehen würde“, sagt sie. Tatsächlich sind durch einen Fehler im deutsch-deutschen Einigungsvertrag bis heute Hunderttausende in der DDR geschiedene Frauen benachteiligt. Frau T. ist also eine von ihnen.

Ingo Senftleben ist sichtlich beeindruckt vom Feuerwerk der Gefühle und Informationen, das ihm hier entgegengebracht wird. Statt auf das Rentenproblem einzugehen, erwidert der Kandidat, er höre ja gern Andre Rieu und natürlich Karat. Unklar, ob er der alten Dame gefallen will oder ob der 44-Jährige tatsächlich auf den Romantik-Geiger und die Ostkombo steht.

„Der redet mit mir? Is ja doll!“

Frau T. läuft gerade erst warm, als der Kandidat Senftleben zu ihr sagt: „Na ja, wir wollen Sie nicht länger stören.“ Er entschwindet durch die Weidenhecke – zu weiteren leeren Parkwegen und weiten Blicken auf sehr gepflegtes Grün.

Nicole Walter-Mundt bleibt noch ein bisschen und sagt, gemütlich habe sie es ja hier, die Frau T. „Ick hab ’ne Jahreskarte für den Schlosspark – wunderbar, sage ick Ihnen, Fräulein Nicole. Ick ess hier meine olle Salatschrippe und les die Bild – mehr brauch ick nich in meinem Alter.“ Na ja und Rügen natürlich. Die Kandidatin nickt, fragt nach, gibt Frau T. in jeder Hinsicht recht; auch bei der Frage der nachts krakeelenden Jugendlichen im Neubaugebiet. „Bissl Respekt und Autorität, das fehlt den jungen Leuten heute“, sagt Frau T. Und hat jetzt doch nicht mehr ganz so gute Laune.

Weiß sie, wer der Mann war, dem sie gerade aus ihrem Privatleben erzählt hat? „Wat Politischet, oder?“ Ja, sagt Nicole Walter-Mundt, das war gerade der Landesvorsitzende der CDU. „Ach wat!“, ruft Frau T. aus und hält sich die Hand vor den Mund, „und der redet mit mir alter Schachtel? Is ja doll.“ Ganz hinten am Horizont steht Ingo Senftleben an einer staubigen Weggabelung und wartet, dass die Gruppe aufschließt, damit er seine Suche nach dem Wähler fortsetzen kann.

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