: Gewaltorgie in Moskau
Russische Polizei geht brutal gegen TeilnehmerInnen einer Kundgebung für die Zulassung oppositioneller KandidatInnen bei den Kommunalwahlen vor. Über 1.000 Festnahmen
Von Bernhard Clasen, Kiew
Die für den 8. September angesetzten russischen Kommunalwahlen werfen ihre Schatten voraus. Nachdem die Wahlbehörde oppositionellen Kandidaten eine Zulassung verweigert hatte, gehen die Menschen in Moskau seit dem 14. Juli jeden Tag auf die Straße. Am 20. Juli forderten auf dem Sacharow-Prospekt 20.000 Menschen bei einer genehmigten Kundgebung die Zulassung der Oppositionspolitiker. Am Samstag waren mehrere tausend Bewohner Moskaus dem Aufruf des Oppositionspolitikers Alexei Nawalni gefolgt, der zu einer nicht genehmigten Protestkundgebung vor dem Moskauer Bürgermeisteramt aufgerufen hatte.
Doch keiner der Protestierenden konnte sich dem Bürgermeisteramt nähern. Dieses war von Polizisten umringt, die die Demonstranten abdrängten und teilweise auch auf bereits am Boden liegende Menschen eindroschen. 1.074 Personen, so der Pressedienst der Moskauer Polizei am späten Samstagabend, seien bei den Demonstrationen vorläufig festgenommen worden. „Dank des idiotischen Vorgehens der Polizei haben viele tausend Moskauer im Stadtzentrum die Aktionen gesehen“, schreibt der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Memorial, Jan Ratschinskij, auf seiner Facebook-Seite. In der Folge hätte die Bevölkerung mehr von den Aktionen am Samstag mitbekommen als von der großen Demonstration eine Woche zuvor.
Gegenüber dem russischen Dienst von BBC erklärte ein hochrangiger Regierungsbeamter, warum man sich für ein hartes Vorgehen gegen die Opposition bei den Moskauer Wahlen entschieden habe. Vier Gouverneure in der russischen Provinz hätten jüngst bei Wahlen ihren Posten verloren. So könnten vor dem Hintergrund zunehmender Proteste sogar unscheinbare Kandidaten eine Gefahr für die Machthaber sein. Außerdem habe man gehofft, dass im Sommermonat Juli kaum jemand auf die Straße gehen werde.
Auch der Umweltaktivist Raschid Alimow, Mitarbeiter von Greenpeace Russland, sieht die jüngsten Demonstrationen in Moskau im Kontext zunehmender Proteste. „Die Menschen sind es leid, immer wieder erleben zu müssen, dass wichtige Entscheidungen undemokratisch und gegen die Interessen der Bevölkerung getroffen werden. Es ist kein Zufall, dass bei den jüngsten Demonstrationen in Moskau auch Umweltaktivisten dabei waren, die wenige Tage zuvor gegen eine geplante Straße in Moskau demonstriert haben, die durch ein radioaktiv verstrahltes Gebiet führen soll“, so Alimow.
„Anderthalbtausend Menschen festzunehmen, nur weil sie die Einhaltung der Wahlgesetzgebung fordern, die Brutalität der Polizisten, die zu Hass gegen die Demonstranten angestachelt wurden, all das wird Moskau nicht vergessen“, glaubt die Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina. Sie steht am Dienstag vor Gericht, weil sie bei einer anderen Aktion auf dem Roten Platz ihrer 2009 ermordeten Mitarbeiterin Natalia Estemirowa gedacht hatte. Damit sei sie für die Behörden Wiederholungstäterin. „Doch ich bin voller Zorn. Und dieser Zorn wächst in unserer Gesellschaft.“
Swetlana Gannuschkina, Menschenrechtlerin
Und dieser Zorn, so fürchtet Gannuschkina, könne in ganz Russland zu einer Massenerscheinung werden. „Die Behörden sägen an dem Ast, auf dem sie sitzen.“ Sie hoffe auf evolutionäre Veränderungen. Doch die Aussichten darauf würden immer geringer, so Gannuschkina.
Programmatisch macht sich der linke Moskauer Politologe Vadim Demier keine Illusionen über die russische Opposition. Diese sei genauso neoliberal und antisozial wie die regierenden Politiker. „Die Auflösung der Demonstrationen am Samstag“, so Damier, „war ein Akt reiner Willkür.“ Derzeit, das zeige das Vorgehen gegen die Demonstrationen in Moskau genauso wie gegen die Gelbwesten in Frankreich, würden die Machthabenden weltweit immer häufiger zu repressiven Methoden greifen. „Die Reaktion, die Repressionen und der Autoritarismus erleben weltweit eine Blüte.“
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