Flyer verteilen erlaubt

Das Landgericht stellte ein Verfahren gegen einen Aktivisten ein, das trotz Belanglosigkeit in Berufung gegangen war. Damit endet nach drei Jahren ein sehr merkwürdiger Fall

In kurzen Hosen Flyer verteilen: Für Bremer Polizisten ist das höchst verdächtig Foto: Lino Mirgeler/dpa

VonElisabeth Nöfer

Vor dem Landgericht Bremen ging am gestrigen Dienstag ein Verfahren in die zweite Runde, bei dem es sich eigentlich um eine Bagatelle handelt – hätte die Staatsanwältin im vergangenen Jahr nicht wegen „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ Berufung eingelegt.

Für Verteidiger Jan Lam hat das ganze Verfahren ein „Geschmäckle“. Es sei „nicht nachvollziehbar“, dass sein Mandant Bernd Krause (Name geändert) sich trotz Freispruchs nun erneut vor dem Landgericht verantworten muss. In der Tat: Die ganze Sache ist merkwürdig. Merkwürdig ist auch, dass der Polizist Günther M. beim Berufungstermin aus „gesundheitlichen Gründen“ plötzlich verhindert ist.

In der Sache geht es um einen Flyer, den der Erwerbslosen-Aktivist Krause im September 2016 am Eingang des Kommunalkinos City 46 auslegen wollte. Krause ist ALG II-Bezieher und Aktivist in der Hartz-IV-kritischen Gruppe „Echte Demokratie jetzt“. Sein Pech: Auch der Staatsschutzbeamte Günther M. war damals vor Ort. Während oben im Saal die damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) an der Veranstaltung „Futurale: Arbeiten 4.0“ teilnahm, forderte der Zivilpolizist M. den Besucher Krause auf, ihm seinem Flyer zu zeigen. Darauf stand der Slogan „Arbeitslos 5.0: Nahles zahl deine Essensmarken zurück!“, mit dem Krause gegen die Hartz-IV-Politik protestierte. M. hielt ihn am linken Unterarm fest. Krause habe in kurzen Hosen und Sandalen verdächtig gewirkt, erklärt Günther M. in seiner Aussage.

Würden kurze Hosen Störer eindeutig kennzeichnen, hätte M. einen Straftatsverdacht, der seinen Übergriff auf Krause erklären könnte. Dem ist aber nicht so. Und: „Der Polizist hat sich nicht ausgewiesen, er hat vor Gericht nicht die Wahrheit gesagt“, sagt Krause gegenüber der taz.

Im Kino riss Krause sich von M. los und lief nach draußen. Das allein sei nicht als Widerstand zu werten, sagte der Richter Hoffmann vom Amtsgericht später in der Urteilsbegründung. Draußen vor dem Kino bekam Günther M. den Flyerverteiler zu fassen, erteilte ihm einen Platzverweis und stellte seine Identität fest.

Das hielt Richter Hoffmann im ersten Verfahren 2018 vor dem Amtsgericht nach dem Bremer Polizeigesetz für rechtswidrig. Jeder habe das Recht, seine Meinung zu sagen und der Inhalt des Flyers sei nicht verdächtig gewesen, so Hoffmann. Außerdem sei das polizeiliche Handeln mit dem Veranstalter nicht abgesprochen gewesen. Krause wird damals in allen Punkten freigesprochen.

Für Bernd Krauses Verteidiger hat das ganze Verfahren „ein Geschmäckle“

Das Urteil ist eine schallende Ohrfeige für den Beamten und die Staatsanwaltschaft. Aber auch am Dienstag vor dem Landgericht hält der Richter die Entscheidung wieder für richtig. „Ich habe selten so ein sauberes Urteil gesehen“, sagt Richter Schröder. Wäre der Angeklagte schuldig, „würde das ja bedeuten, ich dürfte immer ohne Anfangsverdacht Flugblätter kontrollieren. Das ist nicht der Fall.“

Doch warum ging dann die Staatsanwältin in Berufung und plädierte auf 50 Tagessätze wegen Widerstands? Alle Anwesenden im Saal des Landgerichts zucken mit den Schultern, draußen ist es sommerlich, drinnen sitzt man in schwarzen Roben über einem Fall zusammen, der drei Jahre her ist. Es ist ein Schuldminderungsgrund, wenn zwischen Tat und Gerichtstermin viel Zeit vergangen ist. Schließlich beschließt Richter Schröder die Einstellung des Verfahrens auf Kosten der Staatskasse. Man sieht Krause seine Erleichterung an.

Sicher sei der Freispruch nicht gewesen, erzählt er später. „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ werde gegen AktivistInnen immer wieder streng ausgelegt, habe ihn sein Anwalt Lam im Vorfeld gewarnt. Krause will trotzdem „auf jeden Fall weiterhin politisch aktiv sein“. Doch die Angst vor einer Verurteilung, die wird er nicht vergessen.