piwik no script img

Berater, Täter oder Opfer?

Als Leiter des Weißen Rings in Lübeck sollte er Opfern helfen. Doch 29 Frauen werfen Detlef H. nun sexuelle Übergriffe vor. Der Prozess ist geprägt von Verleumdungsvorwürfen und schmierigen Details

Von Friederike Grabitz

Detlef H. ist in Lübeck als respektable Person bekannt: im Berufsleben Polizeibeamter und Gewerkschafter, umtriebig, bestens vernetzt. Nach seiner Pensionierung machte er schnell Karriere im Ehrenamt, wurde Außenstellenleiter des Weißen Rings in Lübeck. In seinen zwölf Jahren im Amt machte er den Verein zum mitgliederstärksten in Schleswig-Holstein, vergrößerte deutlich das Team der ehrenamtlichen Berater und akquirierte Opferfälle für den Weißen Ring, von denen er etliche Hundert auch selbst übernahm.

Das Ehrenamt sei ein Seitenwechsel gewesen, erzählte der heute 74-Jährige den Lübecker Nachrichten Anfang 2018 in einem Interview – von einer „täterorientierten Arbeit“ bei der Polizei hin zur Perspektive der Opfer. Dabei habe er verstanden: Für das Mitgefühl und die Professionalität, die man brauche, komme es „nicht auf die Art der Straftat an, sondern auf die psychische Verfassung des Opfers“.

Diese Aussage erfuhr in der öffentlichen Wahrnehmung eine Bedeutungsverschiebung, als Gerüchte laut wurden, dass Detlef H. für sein großes Engagement auch andere Gründe gehabt haben könnte als reine Menschenliebe. Frauen, die er beraten hatte, berichteten von Grenzüberschreitungen und Ambivalenzen, verbalen und sexuellen Übergriffen.

Die Gerüchte gibt es schon seit 2012, und obwohl sie immer lauter wurden, änderte sich vorerst nichts: Im Mai 2016 nahm Detlef H. im Rathaus den Dank von Schleswig-Holsteins Innenminister Stefan Studt (SPD) entgegen. Im Oktober 2017 kamen zum Jahresempfang des Vereins unter anderem die Bundestagsabgeordneten Claudia Schmidtke (CDU) und Gabriele Hiller-Ohm (SPD). Als H. im Januar 2018 dann den Vorsitz des Weißen Rings abgab, bekam er einen ehrenvollen Abschied und das Angebot, Pressesprecher des Vereins zu werden, was er aber nicht annahm.

Nach der feierlichen Ehrung ging es plötzlich sehr schnell. Hinweise gingen beim Frauennotruf, der Polizei und der Staatsanwaltschaft ein. Klagen wurden eingereicht, die Vorwürfe mehrten sich: Der Opferberater habe in Beratungsgesprächen oder bei anderen Gelegenheiten versucht, Frauen gegen ihren Willen zu küssen. Er habe ihnen zwischen die Schenkel gefasst, sie zum Sex aufgefordert oder ausgefragt, mit wem sie Sex hätten. Mehrere Frauen sagten, er habe ihnen geraten, sich zum Geldverdienen zu prostituieren.

Es war wie ein Dammbruch: Unabhängig voneinander gaben 29 Frauen an, Opfer einer Grenzüberschreitung durch Detlef H. geworden zu sein.

Nur ein Fall vor Gericht

Die allermeisten dieser Vorwürfe werden jedoch eine Aktennotiz bleiben. Viele fallen nämlich in die Kategorie der „sexuellen Belästigung“, die es als eigenständige Straftat erst seit dem Jahr 2016 gibt. Wenn sich die Vorwürfe auf frühere Zeitpunkte beziehen, nimmt das Gericht sie deshalb nicht an. Vorwürfe der „sexuellen Beleidigungen“ dagegen wurden wegen Verjährung abgelehnt, denn Beleidigungen müssen innerhalb von drei Monaten angezeigt werden.

Als einzige Anzeige vor Gericht kam der Fall der 41-jährigen Dora M. Die Verhandlung, die im Juni am Amtsgericht Lübeck begann, bekommt im Kontext der besonderen Rolle des Angeklagten und der 28 anderen Anzeigen große öffentliche Aufmerksamkeit. Der konkrete Vorwurf lautet auf Exhibitionismus, also Entblößung.

Die schwangere dreifache Mutter Dora M. hatte 2016 Hilfe beim Weißen Ring gesucht, nachdem ihr Mann sie geschlagen, ihr Geld geraubt und sie verlassen haben soll. Zuerst sei Detlef H. der rettende Leuchtturm gewesen, sagte Dora M. im Prozess aus: Er habe ihr Geld gegeben, eine neue Wohnung vermittelt, die sie dringend gebraucht habe und er habe ihre Familie ins Café eingeladen. Dann habe er um ein Treffen allein mit ihr gebeten, ohne Kinder.

Während dieses Treffens, so berichtet es M. am ersten Prozesstag, habe er ihr angeboten, dass sie als Prostituierte arbeiten könne, um ihre finanziellen Probleme zu lösen. Dann habe er neben ihrem Stuhl gestanden, den Hosenstall offen, und sie aufgefordert, seinen Penis anzufassen und sich auch zu entblößen. Er habe „nach Urin und altem Mann“ gerochen, sagte sie, ihr sei schlecht geworden von dem Geruch.

Dora M. wirkt selbstsicher und erzählt mit fester Stimme, detailliert, ohne Zögern. Er habe Geld von ihr haben wollen für Umzugskartons, sie habe daraufhin um Stundung gebeten, weil sie noch nicht einmal Geld habe, ihre Umzugshelfer zu bezahlen. „Geh in die Knie und besorg es denen mit dem Mund, dann sind sie bezahlt“, soll er geantwortet haben.

Detlef H. bestreitet all das. Und er stellt die Situationen mit Dora M. während seiner Aussage vollkommen anders dar. Auch er spricht über die Umzugskartons. Für ihn sind sie jedoch ein Beispiel für die angebliche Unzuverlässigkeit seiner früheren Klientin.

Sie habe ihn oft charakterlich enttäuscht – dabei habe er wirklich helfen wollen. In seiner Erzählung ist sie es, die sich ihm anbietet: „Ich brauche Geld“, habe sie immer wieder gesagt und gefragt, ob sie bezahlten Sex mit ihm haben könne, ob er sie in einen Eskort-Service vermitteln könne.

Doch Dora M. ist nicht die einzige Frau, die H. in der Verhandlung belastet. Am dritten Prozesstag stärkten vier Frauen als Zeuginnen ihre Aussage. Zwei Polizistinnen, die in einer Video-Vernehmung M.s Aussage über Detlef H. aufgenommen haben, hatten den Eindruck, dass sie die Wahrheit sagte. Eine Polizeiangestellte sagte zudem aus, Detlef H. habe sie bei einer beruflichen Begegnung 2017 mehrfach bedrängt, Fotos von ihrem Dekolleté machen zu dürfen, und versucht, sie zu küssen.

Vor einer anderen Zeugin soll er in der Hose onaniert haben, während sie von einem Missbrauch erzählte, den sie als Kind erlebt hätte. Mit der Vernehmung dieser Zeuginnen möchte Staatsanwältin Magdalena Salska ein Verhaltensmuster des früheren Außenstellenleiters aufzeigen, das er selbst grundsätzlich abstreitet. Um das weiter zu belegen, beantragte sie die Anhörung vier weiterer mutmaßlicher Opfer als Zeugen.

Auch Detlef H. beantragte über seinen Anwalt weitere Zeugenanhörungen: eine ehemalige Vermieterin, der Dora M. noch Monatsmieten schulden soll, und ein Mitarbeiter der Stadtwerke, mit dem sie um einen Fehlbetrag auf ihrer Stromrechnung prozessiert hatte. Ein Polizist, der gegen Dora M. in einem Betrugsverfahren wegen Zahlungsrückständen ermittelt hatte, hat bereits ausgesagt: „Für mich war sie eine Betrügerin. Aus meiner Sicht ist sie zum Weißen Ring gegangen, um ein Empfehlungsschreiben für eine neue Wohnung zu bekommen.“ In acht Monaten habe sie nur eine halbe Monatsmiete bezahlt, sei sehr oft umgezogen. Das Wort „Mietnomadin“ fiel.

Detlef H. möchte offenbar Details aus dem Leben von Dora M. öffentlich machen, die sie in ein ungutes Licht stellen und als Betrügerin unglaubwürdig machen sollen. Sein Anwalt Oliver Dedow beantragte zudem, 13 Frauen anzuhören, denen H. geholfen habe. In den zwölf Jahren habe sein Mandant 1.300 Gewaltopfer professionell beraten. Die Staatsanwältin konterte: „Dass der Angeklagte bei diesen Damen korrekt gehandelt hat, tut hier nichts zur Sache.“

„Eine Hetzjagd“

Weil im Prozess Aussage gegen Aussage steht, bilden sich auch unter den Beobachtern Fraktionen. Die Lokalpolitikerin Astrid Stadthaus-Panissié, Gründerin der liberal-konservativen Wählergemeinschaft „Bürger für Lübeck“, kannte Detlef H. über den Weißen Ring und ist aus dem Verein ausgetreten, weil sie den Umgang mit ihm nicht korrekt fand. „Vielleicht braucht Lübeck so einen Fall“, sagt sie. „Das ist eine Vorverurteilung, eine Hetzjagd gegen ihn und sehr ehrenrüchig.“

Andere BeobachterInnen hielten die Schilderungen von Dora M. hingegen für glaubwürdig.

Sollte Detlef H. wegen Exhibitionismus schuldig gesprochen werden, droht ihm bis zu ein Jahr Gefängnis oder eine Geldstrafe. Weil der Fall juristisch keine große Tragweite hat, wird er vor dem Amtsgericht verhandelt, nicht vor dem Landesgericht und Richterin Andrea Schulz wird ohne Schöffen am Ende allein entscheiden. Es sollen weitere Gerichtstermine folgen. Wann das Urteil fällt, ist noch nicht klar.

Damit wäre der Prozess jedoch ohnehin noch nicht zu Ende: Im Falle einer Verurteilung, verrät Verteidiger Oliver Dedow, werde sein Mandant auf jeden Fall in Revision gehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen