„Wie viele Menschen sollen noch umgebracht werden?“

Vor einem Jahr fiel das Urteil im NSU-Prozess. Weitere Aufklärung wurde versprochen. Doch etwaige Terrorhelfer sind bis heute nicht ermittelt, Spuren in ein rechtes Netzwerk wurden nicht weiterverfolgt. Jetzt wirft der Mord an Walter Lübcke neue Fragen auf

Oberlandesgericht München am 11. Juli 2018. Letzter Tag im NSU-Prozess Foto: Marc Müller/Getty Images

Von Konrad Litschko

Carsten S. zumindest sitzt in Haft. Seit dem Frühjahr, in einer Justizvollzugsanstalt, die nicht genannt werden darf. Der 39-Jährige lieferte dem NSU-Trio die Česká-Pistole, mit der die Rechtsterroristen neun Migranten erschossen. Nach seiner Festnahme packte S. aus, seitdem steht er unter Zeugenschutz. „Er möchte für sich endlich abschließen“, sagt Jacob Hösl, der Anwalt von Carsten S. Schon zu Jahresbeginn habe er seine Revision gegen das NSU-Urteil zurückgezogen, Wochen später seine Haft angetreten.

Damit ist Carsten S. der einzige NSU-Helfer, der heute in Haft sitzt. Genau vor einem Jahr sprach das Oberlandesgericht München das Urteil wegen der NSU-Terrorserie mit zehn Todesopfern und drei Anschlägen: lebenslange Haft für Beate Zschäpe, Haftstrafen bis zu zehn Jahren für vier Helfer der Rechtsterroristen. Für Carsten S. waren es drei Jahre Jugendstrafe. Es war ein historisches Urteil, der Schlusspunkt eines Mammutprozesses, nach fünf Jahren Verhandlung.

Es war aber auch: ein Stück Ernüchterung.

Noch im Verhandlungssaal wurde einer der Helfer, André Eminger, freigelassen, der engste Vertraute des NSU-Trios. Den Untergetauchten beschaffte er eine Wohnung, Papiere und Wohnmobile. Dafür bekam er zweieinhalb Jahre Haft, Neonazis auf der Tribüne brachen in Jubel aus. Einige Tage später wurde auch Ralf Wohlleben aus der U-Haft entlassen. Er organisierte dem Trio die Mordwaffe. Die anderen beiden verurteilten Helfer, Holger G. und Carsten S., waren seit Jahren auf freiem Fuß. Alle Angeklagten gingen umgehend in Revision gegen das NSU-Urteil, daher auch die vorläufigen Freilassungen. Es wird dauern, bis der Bundesgerichtshof den Schuldspruch überprüfen wird. Aktuell schreiben die Richter an der schriftlichen Urteilsbegründung. Aufgrund des langen Prozesses haben sie Zeit: Spätestens im April 2020 müssen die Richter ihre Begründung vorlegen.

So lange sind die Urteile noch nicht rechtskräftig. So lange sitzt Beate Zschä­pe weiter in U-Haft, derzeit in der JVA Chemnitz. Und so lange bleiben die NSU-Helfer frei – bis auf Carsten S. Den Einzigen, der voll bei der Aufklärung der Terrorserie mitwirkte.

Dass die NSU-Helfer-Szene bisher davonkommt, enttäuscht viele Opferangehörige. Auch Gamze Kubaşık. Ihr Vater wurde am 4. April 2006 in Dortmund vom NSU ermordet, in seinem Kiosk, durch zwei Kopfschüsse. Ein Jahr nach dem NSU-Urteil sagt sie: „Dass Neonazis nach dem Urteil feiern, ist ein ganz bitteres Zeichen.“

Kubaşık macht das Angst. Denn es ist unklar, ob alle NSU-Helfer bekannt sind. „In Dortmund und anderswo laufen immer noch Neonazis frei herum, die wahrscheinlich auch bei dem Mord an meinem Vater mitgeholfen haben“, sagt die 32-Jährige. „Ich möchte endlich, dass man diese Neonazis als Netzwerk verfolgt. Sie sind viel gefährlicher, als die Polizei und der Verfassungsschutz zugeben.“

Der Terror Neun migrantische Gewerbetreibende und eine Polizistin erschoss der „Nationalsozialistische Untergrund“ um die untergetauchten Thüringer Neonazis Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt von 2000 bis 2007. Dazu kamen drei Anschläge in Nürnberg und Köln und 15 Raubüberfälle. Erst 2011 flog das Trio nach einem gescheiterten Bankraub auf, Böhnhardt und Mundlos erschossen sich.

Der Prozess Fünf Jahre verhandelte das Oberlandesgericht München gegen Zschäpe und vier NSU-Helfer. An den 438 Prozesstagen wurden gut 600 Zeugen befragt. Am 11. Juli 2018 fiel das Urteil: lebenslängliche Haft für Zschäpe, bei besonderer Schwere der Schuld, Haftstrafen bis zu zehn Jahre für die Helfer.

Die Aufklärung Neun NSU-Untersuchungsausschüsse gab es in Bund und Ländern. In Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern arbeiten sie noch. (ko)

Generalbundesanwalt Peter Frank hatte nach dem NSU-Urteil versprochen: „Die Akte NSU wird nicht geschlossen.“ Man werde weiter ermitteln nach Un­terstützern suchen. Indes: Dass seitdem etwas passiert wäre, hat man nicht gehört.

Nun wirft der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke neue Fragen auf. Auch in Kassel mordete der NSU: Am 6. April 2006 erschossen die Rechtsterroristen hier Halit Yozgat, in dessen Internetcafé – zwei Tage nach dem Mord an Mehmet Kubaşık. Gab es Helfer? Wenn ja: Hatte der mutmaßliche Lübcke-Mörder Stephan Ernst, ein langjähriger Rechtsextremist, womöglich mit ihnen zu tun? Diente die NSU-Tat als Vorbild? Die Familie Yozgat will darüber nicht spekulieren. Auch ihre Anwälte halten sich bedeckt. Andere aber stellen laut Fragen. „Natürlich kommt jetzt mit dem Mord an Walter Lübcke alles wieder hoch“, sagt Mehmet Daimagüler, Anwalt der Familien zweier Nürnberger NSU-Opfer. „Wissen wir denn, ob das NSU-Netzwerk nicht noch am Leben ist? Ob es nicht weitermordet? Jetzt rächt sich, dass das NSU-Unterstützerumfeld von der Bundesanwaltschaft nie ausermittelt wurde.“

Anfang Juni wurde Lübcke ermordet, vor seinem Haus in Wolfhagen-Istha, 25 Kilometer von Kassel entfernt, auch mit einem Kopfschuss. Der mutmaßliche Täter, Stephan Ernst, fiel bereits ab 1989 mit rechtsextremen Straftaten auf. Als der NSU 2006 in Kassel mordete, war er Teil der dortigen Neonazi-Szene. Gibt es einen Zusammenhang?

Gamze Kubaşık glaubt: ja. „Ich bin überzeugt, dass die Neonazis, die wahrscheinlich beim Mord an meinem Vater mitgeholfen haben, auch mit dem Mord an Herrn Lübcke zu tun haben. Warum sagen immer noch Leute bei der Polizei und beim Verfassungsschutz, dass das alles Einzeltäter sind?“

Klar ist: Gerade nach dem Kasseler NSU-Mord blieben viele Fragen offen. Denn am Tatort war damals auch ein Verfassungsschützer: Andreas Temme. Warum, ist bis heute unklar. Temme behauptet, er habe dort privat auf einer Flirt-Website gesurft und von dem Mord nichts mitbekommen. Letzteres glaubten ihm Ermittler nicht. Ungeklärt ist auch, worüber Temme kurz vor der Tat mit einem V-Mann aus der rechtsextremen Szene Kassels telefonierte.

War diese Szene in den NSU-Mord verstrickt? Gleich drei Zeugen berichteten nach dem Auffliegen des NSU-Trios, sie hätten Böhnhardt, Mundlos oder Zschäpe in der Stadt gesehen – mal auf einer Geburtstagsfeier der Szenegröße Stanley R., mal in einer von Rechten besuchten Gaststätte, mal auf einem Szenekonzert. Die Ermittler konnten nichts davon erhärten. Die Häufung der vermeintlichen Sichtungen in Kassel bleibt aber auffällig: alles Zufall?

„Die Akte NSU wird nicht geschlossen“

Peter Frank, Generalbundesanwalt, nach dem NSU-Urteil

Dazu räumte eine Kasseler Rechtsextremistin, Corryna G., ein, das Internetcafé von Halit Yozgat wenige Monate vor dem Mord mehrmals besucht zu haben. Mit der NSU-Tat will auch sie nichts zu tun gehabt haben: Sie habe dort damals nur Sim-Karten erworben. Seltsam bleibt: Im letzten NSU-Unterschlupf in Zwickau fand sich eine handgemalte Skizze – von Halit Yozgats Internetcafé. Woher kam sie? Fertigte sie jemand für das NSU-Trio an? Auch dies ist ungeklärt. Und nun der Lübcke-Mord. Einen Zusammenhang mit der NSU-Serie sehen die Ermittler bislang nicht. Aber: Auf einer Adressliste mit rund 10.000 Einträgen, die Ermittler beim NSU-Trio fanden, stand auch Lübckes Name – mit seiner Adresse und der früheren Funktion als Landtagsabgeordneter. Lange bevor Lübcke 2015 mit seiner Kritik an Flüchtlingsgegnern bundesweit bekannt wurde.

Auch der Tatverdächtige Stephan Ernst war Thema im hessischen NSU-Ausschuss. Dort allerdings nur als auffälliger, gewaltbereiter Neonazi – ohne direkten Bezug zum NSU-Trio. Aber: Laut Sicherheitskreisen soll Ernst noch bis 2011 Mitglied der völkischen „Artgemeinschaft“ gewesen sein.

Und die zog auch das NSU-Netzwerk an: Der verurteilte Wohlleben ist mit dem Anführer des Vereins befreundet, Zschäpe und Eminger sollen dort Schulungen besucht haben. Und als der NSU 2002 Spendenbriefe an die Szene verschickte, erreichte einen auch die „Artgemeinschaft“.

Fragen wirft zudem der mutmaßliche Waffenvermittler von Ernst auf: Markus H., auch er ein langjähriger Kasseler Neonazi. Der 43-Jährige geriet schon 2006 beim Mord an Halit Yozgat ins Visier. Auffällig häufig hatte er damals eine BKA-Fahndungsseite zu der Tat aufgerufen. Der Polizei erklärte H. sein Interesse damit, dass sein Vermieter ein Bekannter Yozgats sei und er Halit auch einmal getroffen habe. Nach H.s rechter Gesinnung fragten die Ermittler nicht. Sie hakten die Spur ab. Ins Visier gerät nun erneut Stanley R. Er ist eine Kasseler Neonazi-Größe, Fotos von 2002 zeigen ihn mit Stephan Ernst. Die Behörden halten R. schon lange für gewaltbereit, bescheinigen ihm „ein Höchstmaß an Konspirativität“. Heute gilt R. als Deutschlandchef des Neonazi-Netzwerks Combat18 – das sich einem bewaffneten Kampf und „führerlosen Widerstand“ verschrieben hat. So wie der NSU.

Walter Lübcke: Er wurde am 2. Juni 2019 durch einen Kopfschuss getötet Foto: Uwe Zucchi/dpa

„Es sind im NSU-Komplex bis heute viel zu viele Fragen offen“, klagt Opferanwalt Daimagüler. Gerade nach dem Lübcke-Mord sei es umso zwingender, dass die Aufklärung der Rechtsterrorserie wieder aufgenommen werde und der Staat endlich hart gegen Neonazi-Strukturen vorgehe.

Tatsächlich wirken – bis auf Carsten S. – selbst die verurteilten NSU-Helfer nicht geläutert. André Eminger besuchte schon kurz nach seiner Verurteilung ein Neonazi-Konzert im Thüringischen Kirchheim. Bei einem anderen Szenefestival zeigte er sich im Shirt der rechtsextremen „Gefangenenhilfe“. Wohlleben wiederum quartierte sich nach seiner Freilassung beim Anführer der „Artgemeinschaft“ in Sachsen-Anhalt ein. Zuletzt nahm er laut Verfassungsschutz mit Eminger an einem rechtsextremen „Zeitzeugenvortrag“ in Sachsen teil. In der Szene wird das goutiert: Beide würden dort „umsorgt“ und als „Helden“ verehrt.

Beate Zschäpe dagegen findet in der Szene weniger Beachtung. Sie sei dort „out“, wie Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang konstatiert. Auch in Haft seien „politische Auffälligkeiten“ von Zschäpe „nicht bekannt“, sagte die Leiterin der JVA Chemnitz der taz. Ein Sprecher der Bundesanwaltschaft versichert, Hinweisen auf NSU-Helfer werde weiter nachgegangen – bisher aber hätten sich diese nicht gerichtsfest erhärtet. Noch werde gegen neun Verdächtige ermittelt, die dem NSU Waffen oder Papiere verschafft haben sollen. Wie aktiv ermittelt wird, bleibt indes unklar. Durchsuchungen jedenfalls gab es seit dem Urteil keine mehr, auch keine Anklagen.

Gamze Kubaşık hat dafür kein Verständnis. „Wie viele Menschen sollen noch von den Nazis umgebracht werden, bevor endlich diese Gefahr ernst genommen wird?“