: Verdächtige Umarmungen
50.000 Männer wurden bis 1969 in der Bundesrepublik verurteilt – wegen homosexueller Handlungen. Eine Studie erinnert an 20 Betroffene aus dem Gefängnis in Wolfenbüttel. Die dortige Gedenkstätte ist ab November leichter zu besuchen
Der Paragraf 175 des Strafgesetzbuches (StGB) wurde im Jahr 1969 so geändert, dass einvernehmliche sexuelle Handlungen unter erwachsenen Männern nicht mehr als Straftat gelten.
Erst 1994 wurde § 175 StGB komplett gestrichen.
2017 beschloss der Bundestag, die nach § 175 StGB in der Bundesrepublik ergangenen Urteile aufzuheben und die Betroffenen zu entschädigen.
Von mehreren Tausend Betroffenen, also Anspruchsberechtigten, ging man damals seitens der Bundesregierung aus. Innerhalb von 18 Monaten stellten aber nur 129 Personen einen Antrag.
Von Joachim Göres
„Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt“, so steht es im deutschen Strafgesetzbuch, „wird mit Gefängnis bestraft“ – bis 1994 war dieser Paragraf 175 gültig. Mit der Geschichte von homosexuellen Männern, die aufgrund dieses Paragrafen im Strafgefängnis Wolfenbüttel landeten, hat sich die Historikerin Maria Bormuth beschäftigt. Für ihre Arbeit wollte sie mit ehemaligen Häftlingen über ihre Erfahrungen sprechen. Weil sich nur wenige Zeitzeugen meldeten, konzentrierte sich Bormuth auf Gefangenenakten. Allerdings sind nur wenige dieser Schriftstücke erhalten geblieben; sie geben Auskunft über gerade mal 20 von insgesamt rund 50.000 Männern, die wegen homosexueller Handlungen bis 1969 in der Bundesrepublik verurteilt worden sind.
Einer von ihnen ist René Maikowski, Jahrgang 1900. Er wurde 1956 zu zehn Monaten Haft verurteilt – unter anderem wegen des Versuchs der Unzucht mit einem Mann unter 21 Jahren. Nach seiner Entlassung aus dem Strafgefängnis Wolfenbüttel konnte Maikowski nicht mehr als Lehrer tätig sein. Er starb 1992 in Oyten bei Bremen.
Alfred Beichel, 1932 geboren, wurde als Jugendlicher dafür verurteilt, dass er Ende der 40er-Jahre Männern sexuelle Handlungen für Geld angeboten hatte. Er musste drei Monate Jugendstrafe in Wolfenbüttel absitzen. In seinem medizinischen Aufnahmebogen steht, dass es keine Hinweise dafür gebe, dass er „krankhaft homosexuell“ sei.
Homosexualität als „krankhafte Veranlagung und Abartigkeit“: Davon sprach auch der Wolfenbütteler Anstaltspastor Alexander Rohls. In seiner Autobiografie von 1984, aus der Bormuth in ihrer Studie zitiert, berichtet er von seinem Einsatz zur vermeintlichen Besserung homosexueller Gefangenen. Dazu sollten Therapien, Hormonbehandlungen und Kastrationen beitragen. In einem Fall war Rohls besonders „erfolgreich“: Zusammen mit dem Anstaltspsychologen Johannes Voigt überzeugte der Pastor einen schwulen Inhaftierten von einer „freiwilligen Entmannung“.
Dieser Mann, von Beruf Pfleger, war wegen „wiederholter Unzucht“ zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Eine Psychotherapie wurde ihm verwehrt, denn es sei auch während der Haftzeit zu homosexuellen Handlungen gekommen. Im April 1962 führte ein Wolfenbütteler Arzt dann die Kastration durch Dem Mann wurden die Hoden komplett entfernt, um den Sexualtrieb auszulöschen. Nach der Operation kam es nach den Schilderungen des Psychologen „im häufigen Wechsel sowohl zu euphorischer Überhöhung als auch zu Suizidgedanken“. Der Pfleger wurde nach einem Gnadengesuch vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen – nach der Operation stelle er nun keine Gefahr mehr dar.
Der ehemalige Justizbeamte Hartmut Schulz berichtet von der Sonderbehandlung von Homosexuellen im Gefängnis Wolfenbüttel, wo die Doppelbelegung der Zellen ansonsten die Regel gewesen sei: „Man hat darauf geachtet, dass man die Leute gleich weggeschlossen hat.“ Und zwar in Einzelzellen. „Dem lag der Glaube zugrunde“, schreibt Bormuth, „dass besonders junge Männer durch homosexuelle Verführung verleitet werden könnten“.
Der einstige Polizeihauptkommissar Erich Bünte berichtet, wie er Anfang der 60er-Jahre in einem Park in Braunschweig als Lockvogel eingesetzt wurde. Dazu heißt es in der Studie: „Wurde der junge Polizist von einem Mann in eindeutiger Weise angesprochen, kamen dessen Kollegen aus ihren Verstecken und nahmen den Mann fest.“
Egal, ob sie nur für einige Wochen in Untersuchungshaft saßen oder zu längeren Strafen verurteilt wurden: Danach standen viele Männer vor dem beruflichen Nichts und verließen notgedrungen ihre Heimat. Der Besitzer eines Gasthauses schreibt an seinen Anwalt, dass er die Gaststätte nicht weiterführen könne: Nach seiner Verurteilung zu 21 Monaten Haft kämen keine Gäste mehr. Er wanderte zu seinem Bruder nach Japan aus.
Auch in anderen Fällen mussten die Betroffenen nach dem Gefängnisaufenthalt umziehen, um einen neuen Job zu finden: In der Heimat ging das nicht.
Im Fall eines Theaterintendanten wurde ein Vorermittlungsverfahren eingeleitet, nachdem als Laiendarsteller eingesetzte Schüler das Gerücht verbreiteten, der Mann sei ein „175er“. In der Vorermittlungsakte wird unter anderem festgestellt, dass der Mann bei Begrüßungen andere Männer und Frauen umarmte oder auch auf die Wange küsste. Zu einer offiziellen Ermittlung kam es am Ende nicht: Die aber hätte auch nach Überzeugung des Intendanten sein berufliches Ende bedeutet.
Ab dem 17. November kann man sich am Ort des Leidens über die Schicksale der Verurteilten informieren: Dann eröffnet ein neues Ausstellungsgebäude der Gedenkstätte in der Justizvollzugsanstalt Wolfenbüttel. Darin wird auch an die 527 Menschen erinnert, die in der NS-Zeit im Strafgefängnis Wolfenbüttel hingerichtet wurden. Bislang mussten Interessierte sich anmelden, um die auf dem Gelände der JVA liegende Gedenkstätte besuchen zu können. Das ist durch die Schaffung eines neuen Eingangs in Zukunft nicht mehr nötig.
Die Studie „Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt, wird mit Gefängnis bestraft“ ist für sieben Euro erhältlich bei der Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten (www.stiftung-ng.de)
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