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Debatte Politische Zukunft der TürkeiDer rechte Boom

Kommentar von Issio Ehrich

In der Türkei beginnt keine linksliberale Ära. Die vergangenen Kommunalwahlen zeigen, dass Ultranationalisten die größten Erfolge feiern.

Selbst wenn Ekrem İmamoğlu auch die Neuwahlen gewinnt, steckt er in einer vertrackten Lage Foto: reuters

W ie ein Magnet. Ekrem İmamoğlu zieht die Aufmerksamkeit an. Ende März holte er bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul die meisten Stimmen. Seither ist er der Star der Opposition. Und der Albtraum des Präsidenten. Recep Tayyip Erdoğan ließ die Wahlen in der Metropole annullieren. Und jetzt fragen sich alle: Gewinnt İmamoğlu auch die Neuwahlen Ende Juni? Und wenn ja, löst er Erdoğan 2023 an der Spitze des türkisches Staates ab? Das Interesse, das İmamoğlu auslöst, ist berechtigt. Nie wurde ein Oppositionspolitiker dem Autokraten so gefährlich. Zugleich sorgt der Hype um den Kandidaten der kemalistischen CHP für ein schiefes Bild der Entwicklungen in der Türkei. Linke und Liberale sprechen bereits von einer neuen, weltoffenen und toleranten Epoche. Doch davon kann noch lange keine Rede sein.

Den bedeutendsten Machtgewinn verzeichnen in der Türkei ultranationalistische Kräfte. Ihre Erfolge bei den Kommunalwahlen blieben weitgehend unbeachtet. Und noch wichtiger als das: Ihr illiberales, ausgrenzendes Weltbild floriert – auch in den Reihen der Opposition.

Zunächst einmal wächst der Einfluss der Rechten direkt. Ihr Sammelbecken ist traditionell die MHP. 2017 steckte die Partei noch in einer existenziellen Krise. Sie zerfiel. Prominente Mitglieder stießen ein neues Projekt an, von dem noch die Rede sein wird. Trotz Spaltung gewann die MHP im März Dutzende Bürgermeisterposten hinzu, mehr als İmamoğlus CHP. Dieser Erfolg spiegelt ihr wachsendes Gewicht in der Regierungskoalition wider.

Die MHP hat sich 2018 mit Erdoğans AKP zur „Volksallianz“ zusammengerauft. Das zu erwähnen, ist wichtig, denn der Eindruck, Erdoğan würde die Türkei allein regieren, trügt. Die AKP bekommt schon lange keine eigenen Mehrheiten mehr. Die Rechten hätten wiederum Schwierigkeiten, die hohe 10-Prozent-Hürde zu überwinden. AKP und MHP sind aufeinander angewiesen. Mehr denn je gilt aber: Erdoğans religiös-konservatives Lager verliert in diesem Bund Macht, die Ultranationalisten gewinnen. Und sie zementieren den Kurs des Präsidenten: Multilateralismus? Fremde Mächte wollen doch nur den Aufstieg der Türkei sabotieren. Bürgerrechte? Sicherheit first. Die Kurdenfrage? Lässt sich nur militärisch lösen. Erdoğan nährt dieses Narrativ seit Jahren – allerdings als Opportunist, nicht als Ideologe. Es ist nicht lange her, dass er den Friedensprozess mit den Kurden vorantrieb und in der EU die Zukunft sah. Doch der Weg zurück zu dieser Agenda ist versperrt, zumindest solange Erdoğan auf die Stimmen der MHP angewiesen ist.

Die türkische Opposition ist nicht der weltoffene, liberale Gegenpol, für den sie im Ausland oft gehalten wird

Was das bedeutet, war kurz nach jenen Wahlen im März zu beobachten: Erdoğan warb für eine „Türkei-Allianz“. Regierung und Opposition sollten sich den Herausforderungen der Nation gemeinsam stellen. Ein Anflug von Demut nach dem Verlust der Großstädte? Nicht bei Erdoğan. Wahrscheinlicher ist, dass er Alternativen zur Zwangs­ehe mit den Rechten testete. Doch der Vorsitzende der MHP reagierte. Natürlich könne man versuchen, die Wogen zwischen Regierung und Opposition zu glätten, sagte Devlet Bahçeli. Dabei dürfe man aber „die Niedertracht und den Verrat“ nicht vergessen.

Bahçeli spielte auf informelle Wahlabsprachen von İmamoğlus CHP und der prokurdischen HDP an. Die brandmarkte die AKP im Wahlkampf selbst als einen Pakt mit Terroristen. Erdoğan bekräftigte sofort seine Allianz mit den Ultranationalisten. Spätestens seit der Entscheidung für Neuwahlen in Istanbul, auf die besonders die MHP pochte, ist die Debatte über eine „Türkei-Allianz“ tot. Dass Erdoğan jetzt im erneuten Ringen um Istanbul um linke Kurden buhlt, ist nur ein Akt der Verzweiflung. In der Metropole bekommt er anders keine Mehrheit. Wie lange die MHP das mitmacht? Höchstens bis zum 23. Juni, dem Wahltag. Bahçeli hat sich Erdoğans rechte Hand gekrallt und lässt sie nicht mehr los.

In den Reihen der Opposition ist Ähnliches zu beobachten. Als die MHP zerfiel, entstand die „İyi-Partei“. Ihre Vorsitzende, Meral Akşener, stellte sich zwar gegen den autoritären Aufstieg Erdoğans, aber nicht gegen die rechte Ideologie ihrer alten Partei. Am 4. April postete sie ein Foto von Alparslan Türkeş. An seinem 22. Todestag zollte sie dem Urvater der MHP und den Gründer der Grauen Wölfe Respekt. Die Grauen Wölfe sind so etwas wie der bewaffnete Arm der MHP. Sie zeichneten in den 1970er Jahren für Morde an linken Aktivisten und Intellektuellen verantwortlich.

So wie die MHP ein Bündnis mit der AKP geschlossen hatte, so verbrüderte sich die İyi-Partei mit der CHP. Ein wundersames Bündnis, schließlich gilt die CHP in Deutschland als „Mitte-links“. Diese Labels passten aber nie. Die CHP ist die Partei Atatürks. Der Republikgründer ist für seinen Laizismus bekannt. Doch er ist auch für die Unterdrückung von Minderheiten verantwortlich, etablierte einen Einparteienkult und bekämpfte Gewerkschaften. Dieses Erbe schleppt seine Partei noch mit sich herum.

Die CHP trägt zum Boom der Rechten bei

Die türkische Opposition ist nicht der weltoffene, liberale Gegenpol, für den sie im Ausland oft gehalten wird. Der Autor Halil Karaveli beschreibt in seinem Buch „Why Turkey is Authoritarian“, wie Beobachter die Dynamik türkischer Politik meist als Kampf der Kulturen deuten: Säkularismus gegen Islamismus. Diese Sichtweise dominiert auch in Deutschland. Sie führt zu einem unkritischen Blick auf die Gegner Erdoğans. In einem Kommentar für die New York Times vertrat Karaveli eine steile These: Säkuralismus und Islamismus sind in der Türkei die zwei Seiten derselben rechten Ideologie. Damit tut er progressiven Köpfen der CHP unrecht. Doch es lässt sich kaum bestreiten: Die CHP trägt zum Boom der Rechten bei.

Selbst wenn İmamoğlu auch die Neuwahlen gewinnt und zum großen Erdoğan-Herausforderer erwächst, er würde 2023 in einer vertrackten Lage stecken. Ohne die rechte İyi-Partei hätte er keine Chance, den Präsidenten zu stürzen.

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Issio Ehrich ist ein freier Journalist und Fotograf aus Berlin. Er berichtet vor allem über die Sahelzone und die Türkei. Seine Reportagen und Bilder erscheinen in Qualitätsmedien in Deutschland und anderen europäischen Ländern.
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5 Kommentare

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  • Die Vergleiche der heutigen mit der damaligen CHP macht keinen Sinn, da Imamoğlu nicht per se den Laizismus befürwortet. Er selbst ist gläubig und das tut er auch offen kund. Er hat den Wahlkampf als einen letzten Kampf um die Demokratie bezeichnet und hat auch sehr versoehnliche Toene in Bezug auf die Minderheiten in der Tuerkei geäußert. Er macht keinen Unterschied in der Herkunft. Das hat er bewiesen als er selbst als ein griechische bezeichnet wurde, indem er geantwortet hat, was denn diese Leute, die solche Behauptungen aufstellen erreichen wollen? Mit solchen Behauptungen wuerde man auch die vielen Minderheiten in der Tuerkei diskrimieren. Was waere denn so schlimm daran, wenn er einer waere lautete seine Antwort im indirekten Sinne. Und auch bezüglich einer Kurdenfrage, wie er den Namen Dersim fänd (das ist die kurdische Bezeichnung fuer eine türkische Stadt, was Jahrzehnte lang in der Tuerkei nicht toleriert wurde) meinte er, dass er diesen Namen schoen findet.

    Was ich damit sagen moechte, dass der Autor sich anscheinend nicht intensiv mit Imamoglu beschäftigt hat und stattdessen Dinge wiedergibt, die seit Jahrzehnten ueber die CHP geschrieben werden. Ich bitte die Autoren alle seine Interviews sich mit ubersetzung anzusehen.

  • En wirklich gut differenzierender Artikel. Die CHP war schon in früherer Zeit von kemalistisch-nationalistischen Ansichten geprägt. Das wirklich demokratische Potential reduziert sich damit auf rund 10% der WählerInnen.

  • 0G
    05838 (Profil gelöscht)

    Seit wann gibt es in Diktaturen Wahlen?

    • @05838 (Profil gelöscht):

      Seltsam. Das Wort "Diktatur" kommt auf dieser Seite nur in Ihrem Kommentar (und bald vielleicht in meinem) vor.

      Worauf beziehen Sie Ihre Frage?

  • Die Situation von Imamoğlu wäre 2023 nicht vertrackter als jetzt bei der Wahl zum Oberbürgermeister von Istanbul. Die hat er auch nur deshalb gewinnen können, weil sowohl die nationalistische Iyi Parti wie auch die kurdische HDP keine eigenen Kandidaten aufstellen und damit diese beiden sehr gegensätzlichen Parteien seine Kandidatur unterstützten. Aber warum sollte bei den nächsten Präsidentschaftswahlen nicht gelingen, was jetzt in Istanbul gelang. Beim zweiten Wahlgang in Istanbul ist die Unterstützung für Imamoglu sogar noch breiter, da jetzt auch die Kommunisten und die radikalislamistische Saadet-Partei zugunsten von Imamoglu auf eine Kandidatur verzichteten.