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SPD nach Nahles: perplex, wütend, unter Schock

Selbst für die engere Parteiführung überraschend legt Andrea Nahles alle Ämter nieder. Es ist das Finale einer beispiellosen Woche voller Intrigen, missglückter Manöver und Verletzungen. Die SPD muss NachfolgerInnen an der Partei- und Fraktionsspitze finden – und endlich die Frage klären, wie sie es mit der Groko hält

Von Stefan Reinecke und Andreas Wyputta

Es ging einfach nicht mehr. „Die Diskussion in der Fraktion und die vielen Rückmeldungen aus der Partei“, so die Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles am Sonntagmorgen in einer Mail an die Mitglieder, „haben mir gezeigt, dass der zur Ausübung meiner Ämter notwendige Rückhalt nicht mehr da ist.“ Nun ist alles offen – wer die SPD führen wird und ob die Große Koalition kollabiert.

Der Rücktritt von allen Ämtern war Nahles’ zweite einsame Entscheidung in ein paar Tagen. Am Montag hatte sie nach dem Desaster der Europawahl die Devise ausgegeben: Keine Personaldebatte. Und am Abend dann selbst verkündet, sie wolle sich vorzeitig zur Fraktionschefin wählen lassen. In der SPD-Spitze waren viele von diesem Manöver am Montag überrascht worden – und ziemlich wütend.

Die Nachricht, dass Nahles die Fraktions- und Parteispitze abgibt, kommt ähnlich überraschend. Manche Genossen (siehe Interview rechts) hatten angesichts der miesen Stimmung in der Fraktion den Rücktritt geahnt. Doch dass Nahles komplett hinwirft, wusste in der engeren SPD-Spitze vor Samstagabend offenbar niemand. Die Vizechefs der SPD – Olaf Scholz, Malu Dreyer, Manuela Schwesig, Natascha Kohnen, Thorsten Schäfer-Gümbel und Ralf Stegner – hatten noch am Samstag in einem Aufruf einen „solidarischen Umgang“ mit der Parteichefin eingefordert. Vizekanzler Scholz unterstützte die Fraktionschefin noch in einem Interview, das am Sonntag erschien.

Perplex angesichts von Nahles’ Rückzug waren auch viele Genossen im größten Landesverband Nordrhein-Westfalen: „Ich muss mich erst einmal sortieren“, erklärte ein führender Sozialdemokrat, der von der taz am Sonntagmorgen aus dem Bett geklingelt wurde. Und: „Ich weiß von nix.“

Andrea Nahles’ politische Karriere geht, nach knapp 30 Jahren als Juso-Chefin, Generalsekretärin, Arbeitsministerin und erste SPD-Chefin mit einem lauten Knall zu Ende. Und wohl für immer: Sie verzichtet auch auf ihr Bundestagsmandat. Neben den bei Rückzügen üblichen Respektbekundungen aus der Partei und von der Konkurrenz verdrießt Nahles’ abrupter Rückzug auch manche GenossInnen: „Das ist jetzt die zweite irrationale Entscheidung, die Andrea getroffen hat“, so ein SPD-Spitzen-Genosse aus Düsseldorf. NRW-Parteichef Sebastian Hartmann hatte schon zuvor klargemacht, er halte die von Nahles selbst befeuerte Personaldiskussion für schädlich: „Die gesamte mediale Aufmerksamkeit verkürzt sich auf die Personalie“, kritisierte er gegenüber der taz am Samstag, also vor Nahles’ Abgang.

„Ich hoffe sehr, dass es euch gelingt, Vertrauen und gegenseitigen Respekt wieder zu stärken“, so lautet Nahles’ letzter Satz in der Erklärung – ein Wink mit den Zaunpfahl. Denn respektvoll war die Art, wie die SPD-Partei- und Fraktionschefin madig gemacht wurde, natürlich nicht.

Elf SPD-Vorsitzende seit Willy Brandt

Fast wie der HSV

Die SPD hat fast so viele Vorsitzende verschlissen wie der HSV Trainer. Von 1945 bis 1987 hatte sie nur drei Vorsitzende. Nach Willy Brandts Rücktritt 1987 häuften sich Parteichefs, die teilweise nur ein oder zwei Jahre im Amt blieben. Inklusive Andrea Nahles führten seitdem elf Vorsitzende die Partei, dazu kommen drei kommissarische Vorsitzende.

Cheftypen jeder Art

Am kürzesten im Amt mit fünf Monaten war 2005/2006 der brandenburgische Ministerpräsident Platzeck. Die SPD hat alle Kategorien von Chefs durch: Typus Erlöser (Platzeck, Martin Schulz), solider Kompromisskandidat (Kurt Beck, Franz Müntefering), autoritärer Anführer (Gerhard Schröder). Sie alle warfen nach wenigen Jahren hin oder wurden zum Rücktritt gedrängt oder gebracht. (ghi)

Schon vor der Europawahl lancierten anonyme Spitzengenossen Medienberichte, in denen ihre Fähigkeit, die Fraktion zu führen, angezweifelt wurde. Ober-Juso Kevin Kühnert twitterte, dass er sich für die SPD-Intrigen schäme. Man dürfe „nie, nie, nie wieder so miteinander umgehen, wie wir das in den letzten Wochen getan haben“.

Es ist viel Wut im Spiel, es gibt Verletzungen. Die SPD macht am Sonntag den Eindruck, überfordert zu sein: erst das Debakel in Bremen und Europa, dann Nahles’ missglücktes Manöver, ihre Kritiker aus der Deckung zu zwingen, jetzt der Rücktritt, den die wenigsten auf dem Zettel hatten. Eine Partei am Rande des Nervenzusammenbruchs.

Die Parteispitze versucht, wieder halbwegs Ordnung herzustellen. Am Dienstag wird, so heißt es, keine neue Fraktionsspitze gewählt. Rolf Mützenich, der dienstälteste Vizefraktionsvorsitzende, wird kommissarisch die Geschäfte führen. Als Interimsvorsitzende wird für den Übergang die in der Partei allseits geschätzte Malu Dreyer, Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, die Geschäfte leiten.

Andere GenossInnen stehen am Sonntag noch leicht unter Schock und bleiben schmallippig. Sebastian Hartmann, der Vorsitzende der SPD in Nordrhein-Westfalen und einer der schärfsten Kritiker von Nahles’ letztem Machtmanöver, mahnte, „besonnen zu bleiben und nicht hektisch zu werden“. Man solle Nerven bewahren und „mehr gemeinsame und weniger einsame Entscheidungen“ treffen. In NRW, einem Zentrum der Nahles-Kritiker, will man sich an Personaldebatten nicht beteiligen – jedenfalls nicht öffentlich. „Die Situation ist einfach überkomplex“, ist aus der Landtagsfraktion zu hören. Deren Chef Thomas Kutschaty dankte Nahles auf Twitter nur für ihre „für die Zukunft der SPD wichtige und für sie persönlich ganz sicher auch schwierige Entscheidung“ und wünschte der 48-Jährigen trocken „alles Gute“.

Wiebke Esdar, die dem linken Parteiflügel zugerechnet wird, findet den Rückzug „sehr bedauerlich“, allerdings angesichts der massiven Kritik von Öffentlichkeit, Partei und Fraktion an ihrem persönlichen Stil die „richtige Entscheidung“. Wichtig sei die Mahnung, die Nahles den Sozialdemokraten in ihrer Rücktrittserklärung mit auf den Weg gegeben hat, findet die 35-jährige Bundestagsabgeordnete, die im SPD-Parteivorstand sitzt: „Bleibt zusammen – dahinter sollten wir uns jetzt wirklich alle versammeln“, findet Esdar.

Solche Selbstberuhigungsformeln dienen dazu, den Schaden nicht noch zu vergrößern. Das Ringen um die Spitzenjobs wird nun rasch beginnen. Manche finden eine Doppelspitze klug, um die chaotische Lage zu stabilisieren. Für die Parteispitze fallen öfters die Namen des niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil und der Ministerpräsidentin aus Schwerin, Manuela Schwesig.

„Ich hoffe sehr, dasses euch gelingt, Vertrauen und gegenseitigen Respekt wieder zu stärken“

Andrea Nahles in ihrer Rücktritts-Mail

Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte und bis zuletzt loyal zu Nahles, warnt hingegen beim Personal „vor einem Schnellschuss“. Die SPD müsse zuerst die politische Richtung klären – auch wie sie zur Großen Koalition steht. Und danach geeignete Leute suchen. Nahles’ Rücktritt habe auf die Frage, ob die SPD in der Regierung bleibe, so Lauterbach, „keinen Einfluss, weder dafür noch dagegen“.

Die Groko ist die Schlüsselfrage. Die Rolle als Juniorpartner der Union ist für die Wahlaussichten der SPD toxisch. Das dämmert langsam auch jenen, die bis jetzt eisern die Regierungsbeteiligung der SPD verteidigen. Olaf Scholz, Vizekanzler, bekundete, eine Fortsetzung der Groko über 2021 hinaus sei wenig wünschenswert.

Die Frage lautet aber, ob die GroKo bis 2021 hält. Eine zentrale Figur, die hundertprozentig für die Regierungsbeteiligung stand, fehlt in der SPD nun: Andrea Nahles.

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