: „Netanjahu repräsentiert die wilde Demokratie“
In der Politik Israels gehe es um bedeutende Kämpfe über das Wesen des Staates und des politischen Regimes, sagt Politikwissenschaftler Doron Navot
Doron Navot
46, aus Tel Aviv, ist Chef des Instituts für Demokratiestudien an der Universität Haifa. Navot ist spezialisiert auf die Themen politische Korruption und Kartelle, insbesondere innerhalb der Regierung Netanjahus.
Interview Susanne Kaul
taz: Herr Navot, wie erklären Sie sich die Disziplin im Likud und die Macht des Parteivorsitzenden Benjamin Netanjahu?
Doron Navot: Die Entscheidung, fünf Wochen nach Parlamentswahlen die Knesset aufzulösen, ist überraschend und beispiellos. Dass die Likud-Abgeordneten Netanjahu folgten, liegt zum einen daran, dass er als der Anführer des nationalen Lagers und zum Teil zu Recht als der Politiker gesehen wird, der die unterschiedlichen Gruppen im rechten Lager, Siedler, Nationalreligiöse und Orthodoxe, vereinen kann. Dazu kommt, dass im Likud ein Ethos der Loyalität dem Parteivorsitzenden gegenüber entwickelt wurde. Und letztendlich gibt es in der Partei aktuell niemanden, der Netanjahu ablösen könnte, ohne dass es zu einem Machtkampf kommen würde.
Wie bewerten Sie die Auflösung der Knesset und die Entscheidung, Neuwahlen abzuhalten?
Wir haben keinerlei Erfahrung mit einer solchen Situation. Angenommen, die Arbeitspartei will Vorstandswahlen abhalten. Im Moment ist gar nicht klar, wie viel Zeit ihr bleibt, um sich neu zu organisieren. Dasselbe gilt für eine mögliche Kooperation zwischen Arbeitspartei und Meretz, die im Gespräch ist. Bis September ist kaum absehbar, welche Konsequenzen ein solches Bündnis auf das Wahlverhalten hätte.
Wen sehen Sie als Gewinner bei erneuten Parlamentswahlen?
Im Moment kann ich keine Gewinner erkennen, außer vielleicht die rechten Politiker, die beim letzten Wahlgang an der Einzugsquote gescheitert sind.
Die israelischen Araber haben durch die Spaltung ihrer Vereinten Liste bei den Wahlen vier Mandate eingebüßt. Könnten sie ihren Fehler mit Neuwahlen wettmachen?
Die Vereinte Liste der Araber und der Antizionisten war kein so großer Erfolg. Es gibt riesige Differenzen. Aber auch wenn ein erneutes Zusammengehen zustande kommt, ist gar nicht sicher, dass die Wähler den Fehler verzeihen und allesamt wieder die Vereinte Liste wählen. Die ideologischen Klüfte bleiben so oder so.
Würden Sie der Opposition zustimmen, die sagt, dass es nicht mehr um politische Inhalte geht, sondern nur noch um Netanjahus Freiheit?
Auf keinen Fall. Hier geht es um sehr bedeutende Kämpfe zwischen dem rechten und dem linken Lager oder zwischen rechts und der Mitte über das Wesen des Staates Israel und das Wesen des politischen Regimes. Netanjahu ist an der Spitze des rechten Lagers, und es gibt seine persönlichen Korruptionsaffären, die für die grundsätzlichen Fragen stehen, allen voran das Verhältnis von Politik und Justizapparat. Netanjahu treibt aufgrund der Vorwürfe gegen ihn und aus persönlichen Gründen die populistische Front an. Aber auch ohne die Korruptionsaffäre Netanjahus gäbe es diesen grundsätzlichen Streit in der israelischen Bevölkerung. Das rechte Lager will Demokratie, das linke eher Liberalismus.
Das müssen Sie mir erklären.
Netanjahus Politik steht für eine unliberale Demokratie. Er repräsentiert die wilde Demokratie oder den Populismus. Er steht für mehr Macht für den vom Volk gewählten Politiker. Dies ist kein Angriff auf die Demokratie an sich.
Aber die Medien fürchten um ihre Informations- und Meinungsfreiheit. Sie sehen die Demokratie bedroht.
Na klar, denn die Presse ist für liberale Demokratie. Sie schreibt, dass er kein Demokrat ist. Aber tatsächlich repräsentiert Netanjahu das Volk. Die Demokratie an sich ist nicht in Gefahr, aber die liberale Demokratie.
Was passiert in den kommenden drei Monaten: Liegt Israel auf Eis?
Für Israel ist es eine Katastrophe. Wahlen bedeuten horrende finanzielle Ausgaben. Die Öffentlichkeit verliert das Vertrauen. Wird es zur Methode, dass, wann immer der Regierungschef Neuwahlen will, die Knesset aufgelöst wird? Jeder, dem die Demokratie und der Liberalismus am Herzen liegen, der muss extrem besorgt sein.
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