„Es gibt immer noch die Vorstellung, dass hinter der Grenze Wildnis ist“

Das Klischee des homophoben Polen kennt er – aber die Realität ist komplexer, so Paweł Lewicki

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Paweł Lewicki,

1979 in Warschau geboren, lebt seit 13 Jahren in Berlin. In die deutsche Hauptstadt ist er aber nicht wegen der Schwulenfeindlichkeit in Polen gezogen. Er ist wissenschaft­licher Mit­arbeiter und Ethnologe am Lehrstuhl für Vergleichende Mitteleuropastudien an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

Interview Hannah Geiger

taz: Herr Lewicki, auf die Frage, ob Sie Polen wegen der Homophobie dort verlassen haben, haben Sie geantwortet, dass die Frage Stereotype reproduziere …

Paweł Lewicki: Ja, aufgrund meiner Arbeit bin ich sehr dafür sensibilisiert, welche Bilder man vom „Osten“ zeichnet, nämlich oft das eines homophoben, erzkatholischen, „rückständigen“ und „unzivilisierten“ Ostens. Immer, wenn man den anderen markiert, markiert man auch die eigene Position. Wenn ich sage, die Osteuropäer_innen sind intolerant und homophob, dann impliziere ich, dass ich tolerant bin. Da muss man aufpassen, weil das sehr verallgemeinernd ist. Ich kenne viele Menschen in Warschau und anderen Städten in Polen, die ihre Sexualität ganz normal ausleben können. Und davon gibt es immer mehr. Das Bild ist also viel differenzierter.

Gleichzeitig gibt es krasse Gegenproteste gegen die CSDs in Polen, die von Gegnern direkt angegriffen werden. Da fragt man sich, ob Pride-Paraden in Deutschland, selbst in kleinen Städten, so massiv angegangen würden.

Das ist ein großer Unterschied zwischen Deutschland und Polen: Die Emotionalität, die das Thema auslöst, ist viel stärker. Aber man muss auch bedenken, dass die Kirche in Polen eine sehr große Rolle spielt. Und wir hatten sehr lange keine säkulare öffentliche Sphäre. Entweder war der Besatzer oder der kommunistische Staat an der Macht. Und keiner davon hat Homosexualität zugelassen.

Der Wahlerfolg der PiS hat die Lage noch verschlimmert?

Das hat tatsächlich viel verändert, wobei das auch kein eindimensionales Bild ergibt. Als die PiS an die Macht kam, hat sich die Gewalt zunächst gegen vermeintliche Ausländer oder Geflüchtete gerichtet. Jetzt, seit etwas mehr als zwei Monaten, auch mehr gegen LGBTIs, weil der Bürgermeister von Warschau, Rafał Trzaskowski, von der liberalen Bürgerplattform eine LGBT-Charta unterzeichnet hat, die unter anderem mehr Aufklärung an Schulen verspricht. Die staatliche Propaganda und PiS-Rhetorik nennt das in ihrer Hetze „Frühsexualisierung“ von Kindern und Jugendlichen.

Das ist doch ein Widerspruch. Einerseits wird die Gesellschaft toleranter, gleichzeitig wird die PiS gewählt und die Stimmung verändert sich zum Negativen …

Alle Regierungen bis jetzt haben vernachlässigt, dass Polen ein armes Land ist. Die Leute auf dem Land leben von ganz wenig Geld. Wenn eine Partei, wie es die PiS getan hat, verspricht: Ich gebe euch monatlich 500 Złoty, also etwa 120 Euro, Kindergeld, dann werden die Menschen dafür stimmen. Die vergangenen Regierungen haben es nicht geschafft, die Leute in der neuen kapitalistischen Realität abzuholen und zu unterstützen. Es hieß nur: Wenn du es nicht schaffst im Kapitalismus, dann bist du selbst schuld.

Es gibt auch LGBTs, die die PiS gewählt haben, gerade wegen dieser sozialen Aspekte?

Ja. Der Betreiber eines mal sehr berühmten Gay-Clubs in Warschau etwa. Er hat damals gesagt, er werde die PiS wählen, quasi zum Trotz, weil die vorherige Regierung nie klar Position zu LGBT-Themen bezogen hat. Sie wollte die Kirche nicht verärgern, erklärte, es sei noch zu früh dafür, oder sie hat diese Themen als Nebenschauplätze abgetan.

Begegnet Ihnen in Berlin oder in Ihrer Arbeit oft anti-polnischer Rassismus?

Als ich neu nach Berlin gekommen bin, habe ich viel abbekommen, zum Beispiel blöde Sprüche auf dem Amt. Ich habe aber den Eindruck, dass es heute weniger ist. Was mich trotzdem immer wieder stutzig macht: Obwohl wir hier nur circa 90 Kilometer von Polen entfernt sind, waren selbst in meinem linksliberalen Freundeskreis die allermeisten noch nie in Polen. Die Oder-Neiße-Grenze ist anscheinend immer noch eine harte Grenze. So fährt ein Bekannter zum Beispiel nach Warschau und sagt: „Oh, das ist so modern hier, wie kommt das?“ Dieses Bild steckt tief in den Köpfen. Es gibt immer noch die Vorstellung, dass hinter der Grenze Wildnis ist.