: „Es ist auch zu verurteilen, ein Buchhalter gewesen zu sein“
Jan ist bei der Antifa Altona-Ost in Hamburg. Antifaschismus ist für ihn mehr, als die Verbrechen des NS-Regimes aufzuarbeiten. Trotzdem findet er die späten Prozesse gegen die alt gewordenen Täter richtig
Jan, 20, studiert in Hamburg und macht mit bei der Antifa Altona-Ost.
Protokoll Marinus Reuter
Erst vor Kurzem hat sich mir die Frage gestellt, weshalb viele NS-Täter so spät juristisch verfolgt werden. In der Schule wird von der 5. bis zur 12. Klasse praktisch jedes Jahr die NS-Vergangenheit Deutschlands thematisiert. Das ist wichtig und gut. Aber die Nachkriegszeit und die großen Probleme, die es bei der Entnazifizierung gab, wie viel da nicht funktioniert hat und wie viele einfach weiter machen konnten, das wurde von der Schule nicht wirklich bearbeitet. Das ist an mir und an vielen lange Zeit vorbei gegangen. Erst als es dazu gekommen ist, dass jetzt diese 90-Jähringen verurteilt werden, ist man sich überhaupt bewusst geworden, dass es immer noch so viele gibt, die überhaupt nicht verurteilt wurden.
Politik wurde für mich mit ungefähr 14 Jahren wichtig. Ganz viele Sachen, die man eigentlich normal findet, habe ich nicht mehr als normal anerkannt. Es ist nicht normal, dass wir genug Ressourcen für alle Menschen haben, aber Millionen Menschen auf der Welt verhungern. Es ist nicht normal, dass man sich abschottet. Das Jahr 2015 mit der – in Anführungszeichen – Flüchtlingskrise hat für viele junge Menschen den Anstoß gegeben, sich zu politisieren.
Wenn die letzten lebenden Nazis verurteilt werden, finden das heute alle gut. Heuchlerisch ist dafür vielleicht das falsche Wort, aber: Gleichzeitig ist die Meinung gesellschaftsfähig geworden, Grenzen dicht zu machen und es zuzulassen, wenn Leute im Mittelmeer ertrinken. Oder, dass deutsche Kriege geführt und aus Deutschland Waffen in alle Welt verkauft werden.
Antifaschismus ist aber mehr, als gegen das Dritte Reich von 1933 bis 1945 zu sein. Antifaschismus bedeutet für mich auch zu fragen, was Faschismus überhaupt ist. Faschismus erwächst aus kapitalistischen Verhältnissen, weil sie zwangsweise Ungleichheit schaffen und die dafür sorgen, das Menschen sich über andere stellen. Das ist der Nährboden des Hasses, der sich gegen andere richtet.
Wenn man heute Lager in der Türkei aufbaut, in denen Flüchtlinge untergebracht werden, damit sie nicht nach Deutschland kommen und wenn man die EU-Außengrenzen abschottet und damit zulässt, dass Tausende Leute ertrinken, dann ist es schwierig, sich Antifaschist zu nennen.
Die Debatte um alte NS-Kriegsverbrecher habe ich vor ein paar Jahren bei Oskar Gröning sehr intensiv wahrgenommen, dem Buchhalter von Auschwitz. Es ist bezeichnend, dass diese Verbrechen zu einem Zeitpunkt verfolgt werden, wo es eigentlich zu spät ist. Wo es eigentlich vorbei ist, wo es um 90-jährige Männer geht, die noch zwei, drei Jahre im Knast sitzen, bevor sie sterben oder aus körperlichen Gründen gar nicht mehr in Haft können.
Wir haben das in politischen Gruppen unterschiedlich diskutiert. Einmal ein gewisses Mitleid mit einem tattrigen, alten Mann auf der Anklagebank, wo man denkt: Das ist 70 Jahre her, soll der dafür jetzt im Gefängnis sterben? Aber die weitreichende Frage dabei ist: Kann so eine Schuld jemals erlöschen und was bewirkt die Strafe heute? Was ist der Zweck von Strafe und welchen Zweck erfüllt das, wenn man so einen Typ dann ins Gefängnis steckt?
Natürlich ist das viel zu wenig, viel zu spät. Aber auch Jahrzehnte später muss man verurteilen, was getan wurde – nicht nur die Führenden. Es ist auch zu verurteilen, ein Buchhalter gewesen zu sein. Wenn man in Auschwitz mitarbeitet und Buch führt, muss einem bewusst sein, wovon man da Teil ist. Es ist ethisch völlig richtig, immer wieder zu sagen: Das war falsch, auf allen Ebenen. Schon aus Respekt vor den Millionen Menschen, die damals gestorben sind.
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