1. Mai in Berlin: Groteskes Theater
Die „Revolutionäre 1. Mai-Demo“ ist von Kreuzberg nach Friedrichshain gezogen. Weniger Party, mehr Politik war das Ziel. Ging die Rechnung auf? Ein Resümee.
Nach Jahren in Kreuzberg sollte die Revolutionäre 1. Mai-Demo mit dem Gang durch Friedrichshain – fernab vom Partygetöse – ihr Image aufpolieren, wieder politischer werden. Die Bilanzen aber drehen sich auch am Tag danach vor allem um eine Frage: friedlich oder nicht friedlich? In der Beantwortung scheiden sich die Geister.
Neben den Grünen und SPD-Innensenator Andreas Geisel freute sich auch Polizeipräsidentin Barbara Slowik am Donnerstagmorgen über „insgesamt eine sehr friedliche Veranstaltung“ und findet die 100 Festnahmen, von denen sie zu diesem Zeitpunkt noch ausgeht, „nicht übermäßig viel“. Norbert Cioma, Landeschef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), zieht ein gegensätzliches Resümee: „Dass insbesondere am Endplatz Kolleginnen und Kollegen massiv provoziert, beleidigt, körperlich angegriffen sowie mit Flaschen, Böllern und an anderen Orten auch gezielt mit Steinen beworfen werden, ist armselig und menschenverachtend.“
Ein Blick zurück: Ein Feuerwerk am Wismarplatz gibt kurz nach sieben den Startschuss für den Zug der „Revolutionären 1. Mai-Demo“. Wie schon in den Vorjahren hatte sich die Polizei zuvor vergeblich um einen Ansprechpartner bemüht – „wir werden in keiner Weise mit den Bullen kooperieren“, hatte das Vorbereitungsbündnis bereits im Vorfeld verkündet. Nun formieren sich in Windeseile die Demonstrant*innen, laufen hinter der Polizei los Richtung Boxhagener Platz. Der Lautsprecherwagen – auf dem zuvor politische Reden über PKK, türkische Gefangene und Verdrängung aus dem Friedrichshainer Kiez gehalten wurden und Inspektor Lars über rechte Propaganda rappte –, wird zurückgelassen.
Über die Frankfurter Allee eskortieren mehrere Reihen Polizist*innen, ausgestattet mit Helmen, Schutzkleidung und Schlagstöcken, den schwarzen Block. Der erste Teil diese Demozugs – er verschwimmt zu einer schwarzen Masse. Ein Zuschauer fragt überrascht: „Demonstriert hier die Polizei?“
Laut Bündnis zur Vorbereitung der 1. Mai-Demonstration waren es mindestens 10.000 Demonstrant*innen, die bei der 18-Uhr-Demo durch Friedrichshain unter dem Motto „Gegen die Stadt der Reichen“ mitliefen. Die Polizei sprach wie üblich von deutlich weniger Teilnehmenden. Die Route führte vom Wismarplatz über die Rigaer zur Warschauer Straße.
Laut Polizei waren bei der Friedrichshainer Demo 2.000 Polizist*innen im Dienst. Es habe im Verlauf des Abends über 150 Festnahmen und 39 verletzte Beamt*innen gegeben.
Laut Demonstrationsbündnis gab es mehrere brutale Festnahmen und auch Verletzte aufseiten der Demonstrierenden. (taz)
Mit dem Passieren des verhassten Neubauprojekts der CG-Group in der Rigaer Straße wird es nichts, denn die Polizei leitet die Demonstrierenden durch eine Parallelstraße in den westlichen Teil der Rigaer. Dort sind die Seitenstreifen schon seit dem Morgen beinahe autofrei, hängen seit Wochen Aufrufe zur Gewalt gegen Polizisten an den Häuserwänden. In der Rigaer94, jenem Hausprojekt mit Szenekneipe, in dem der Verfassungsschutz eine Keimzelle linksradikaler Gewalt vermutet, wartet man mit einem Leuchtfeuer aus pinker Pyrotechnik und Bannern auf den Demozug.
Sinnlose Machtdemonstration
Kurz vor der Rigaer94 biegt ein guter Teil der Polizei in eine Seitenstraße, vermutlich um den direkten Kontakt zu vermeiden, zu „deeskalieren“. Bisher ist alles ruhig verlaufen, aber die Polizisten – durchweg Männer – tragen offenbar gehörig Aggressionen unter den Schutzwesten. Ein einzelner bunter Punk schwankt ihnen leicht angetrunken auf dem Gehweg entgegen. Zwei rempeln ihn an, ein dritter schubst ihn, bis er stürzt. Er wird sich nicht wehgetan haben, aber es sind solche sinnlosen Machtdemonstrationen, die das Bild beschädigen, das GdP-Chef Cioma am Folgetag von seinen KollegInnen zeichnen wird: „Durchweg kommunikativ freundlich“, „stets kühlen Kopf bewahrt“, „enorme Professionalität“.
Auf der Warschauer Straße Ecke Revaler Straße ist die Demo laut angekündigter Route beendet. Die Teilnehmer*innen aber wollen nun doch noch weiter nach Kreuzberg zum Myfest. Es kommt zu Rangeleien, Flaschenwürfen und Festnahmen.
Die letzten Szenen dieses Abends gleichen schließlich einem grotesken Theaterstück. Gegen 23 Uhr wird es noch einmal laut an der Ecke, an der gegen 20 Uhr aggressive Polizisten einen bunten Punk zu Fall brachten. Nach der Rückkehr von der Warschauer Straße gab es offenbar Stress an der Rigaer94. Polizisten schleppen einen humpelnden Kollegen fort, auch die Demo-Sanitäter sind noch im Einsatz, versorgen einen Verletzten.
Derweil haben sich die Antagonisten auf der Kreuzung postiert – die Polizei macht mehrreihig die Rigaer dicht. Immer wieder schreiten Schwarzgekleidete unter „Ganz Berlin hasst die Polizei“-Rufen dicht an diese Phalanx, fuchteln vor verschlossenen Visieren, brüllen Hasstiraden. Eine junge Frau hält ihr Transparent unerträglich dicht vor die Augen der Polizisten. Doch die bleiben dieses Mal ruhig. Wohl auch weil die Szenen beharrlich gefilmt werden wie eine Live-Performance. Ohne Pointe weicht die Luft aus allem, die Polizisten geben die Straße wieder frei, und die junge Frau posiert für ein paar letzte Shots vor einem Polizistengrüppchen wie vor einer Touristenattraktion.
Das Resümee des Abends ist ernüchternd: Pinke Pyrotechnik und politische Reden vermischen sich im Verlauf mit viel Alkohol und Provokation. Insgesamt ist die Demo eine sehr männliche Angelegenheit, was nicht nur für die Polizei, sondern auch für die Mehrheit der Demoteilnehmer*innen gilt. Wem die aufgeladene Stimmung Angst macht, wer sich nicht flink bewegen kann, bleibt an diesem Abend ausgeschlossen vom politischen Programm des 1. Mai. Das war schon in Kreuzberg so und ist in Friedrichshain nicht anders.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“