Subversive Medienkunst: Labor für produktive Verstörung

Das European Media Art Festival in Osnabrück beschäftigt sich dieses Jahr unterm Titel „Wild Grammar“ mit dem Aufbegehren.

Menschen kauern auf einer Rolltreppe

Performatives Manifest einer möglichen Jugendbewegung: „Das radikale Patriarchat“ Foto: Anna Witt

OSNABRÜCK taz | Die Verstörung beginnt schon beim Titel. Phase eins: Die verschlungenen Schnörkel seiner Typografie erfordern Dechiffrierkenntnisse. Phase zwei: Ob er nun wirklich „Wild Wild Grammar“ lautet oder doch nur ein „Wild“ enthält, verliert sich in rätselhaftem Dunkel. Skurril ist das, bizarr. Zwei Hürden, die genommen werden wollen, bevor alles beginnt. Zwei Hürden, die natürlich kein Zufall sind, sondern eine Initiation.

Mit Verstörungen kennt sich das Osnabrücker European Media Art Festival (EMAF) aus. Seit jeher ist es ein Labor, in dem so ziemlich alles passieren kann, nur eines nicht: das Erwartbare, das Alltägliche, das Gewöhnliche. Ein Labor ist für Experimente da, und das EMAF experimentiert mit visueller Kunst, auf internationalem Niveau.

Dieser Tage geht mit „Wild Wild Grammar“ (oder eben einem „Wild“ weniger) Ausgabe 32 des Festivals an den Start. Und wer EMAF-Urgestein Hermann Nöring fragt, einen seiner drei Leiter, was ihm an ihr, ganz persönlich, besonders ans Herz gewachsen ist, trifft auf Anna Witt.

Ihre Video-Installation „Das Radikale Empathiachat“ (sic!) zeigt eine Gruppe 18- bis 22-Jähriger, die in Leipzig das performative Manifest einer möglichen Jugendbewegung plant, im öffentlichen Raum, sehr körperlich. „Eine eher unauffällige, stille Arbeit“, sagt Nöring. „Aber sie hat wirklich Tiefe.“ Es geht um die Unwirtlichkeit unserer Städte, um gesellschaftliche Utopien, um ein Aufbegehren gegen die Leblosigkeit.

Alles außer Aktivismus

Aufbegehren. Darum geht es in „Wild (Wild) Grammar“ oft. „Widerständiges Handeln gegen den Status Quo“ stellt das Festival in Aussicht, „Gegenreden“, „versuchte Befreiungsschläge“, „subversives Potenzial“. Aktivismus, erklärt Katrin Mundt, seit 2018 Leiterin des Bereichs „Film & Video“, findet jedoch nicht statt: „Es geht uns darum, eindimensionale Weltbilder infrage zu stellen, eine künstlerische Sprache zu finden, die der Vereinfachung und Verfestigung unserer Sicht auf die Wirklichkeit entgegentritt, die für neue Formen der Erfahrbarkeit von Welt plädiert.“

Das setzt ein unerschrockenes Publikum voraus. Und offen für Neues, für Wagnisse, offen insbesondere für Intellektualität, ist das EMAF-Publikum seit jeher. 14.000 Besucher kamen 2018 zu Ausgabe 31, von vor Ort, aus ganz Deutschland, aus der ganzen Welt. Mit dieser Strahlkraft ist das EMAF einer der besonders hellen Leuchttürme der Osnabrücker Kulturlandschaft.

Ein monströse Maschine lässt Objekte rotieren, Aktenvernichter schreddern ihnen Textbotschaften in den Weg

Wer das EMAF kennt, fühlt sich auch diesmal sofort im Programm zu Hause: Knapp eine Woche Festival, hoch kommunikativ, mit einer Veranstaltungsfülle, die fast übermenschliche Ausdauer verlangt. Rund einen Monat Ausstellung, als ruhiger Ausklang. Es gibt, wie immer, ein Filmprogramm und eine Konferenz. Es gibt eine Klubnacht. Es gibt Workshops und Preisverleihungen. Es gibt Dutzende Installationen, Performances. Und dass die Sichtung der 2.200 Einreichungen Monate in Anspruch nahm, glaubt man gern.

Auf den Performances liegt diesmal ein ganz besonderer Fokus, und das soll, verrät Hermann Nöring, demnächst auch noch wachsen. Da ist zum Beispiel das Kollektiv „Make it happen again“, das eine Aktion von Tony Conrad nachstellt, von 1974: „7360 Sukiyaki“. Filmmaterial wird in Stücke geschnitten und gekocht, ganz real. Das Ergebnis wird auf die Leinwand geworfen, ganz real. „Wir hoffen natürlich“, sagt Nöring schmunzelnd, „dass ein bisschen was da oben dann auch länger hängen bleibt.“ Und Mundt erklärt: „Auch hier geht es darum, etwas auf links zu drehen.“

Jeder singt für sich allein

Besonders herausfordernd, und zugleich besonders spielerisch: „Koorvorming“ von Jo Caimo. Eine Performance, die das Publikum einbezieht. Ohne einander zu sehen, ohne einander zu hören, formen die Teilnehmer einen Chor. Caimo gibt über Kopfhörer Singanweisungen, jeder singt für sich allein, und vom Ergebnis gibt es für alle eine CD. „Das EMAF ist ein Spagat“, sagt Hermann Nöring. „Einerweits wollen wir nicht antikomplex sein, andererseits wollen wir die erreichen, die du mit Kunst vielleicht sonst nicht erreichst.“

Ja, das „European Media Arts“-Festival verstört. Aber diese Verstörung ist produktiv. Etwa in der kinetischen Installation „Flexible Erwartungsauffälligkeit“ von Catharina Szonn. Ein monströse, raumgreifende Maschine, das mechanische Speichermagazin einer Textilwäscherei, lässt Objekte rotieren – Absperrketten, Handschuhe … Aktenvernichter schreddern ihnen Textbotschaften in den Weg. Alles verhakt sich, zerrt aneinander. Das Bild einer „gesellschaftlichen Entwicklung, in der sich das Individuum stets flexibel und wandelbar darstellen soll“.

4. bis 28. 4., verschiedene Orte; Ausstellung: 24. 4. bis 26. 5., Kunsthalle Osnabrück

Herausfordernd auch die Installation „4. Halbzeit“ des Berliner Kollektivs Wermke/Leinkauf. Zwei LED-Leinwände stehen sich gegenüber, auf ihnen grobkörniges, schnellschnittiges Geschehen, kaum erkennbar. Dazu sind Fußball-Fangesänge zu hören. Es geht um die audiovisuelle Widerstandsstrategie der „Ultras“, die längst weit hinausreicht über die Stadien, mitten hinein in den politischen Protest.

Grammar? Ja, es geht hier um Sprache. Aber es ist eine Sprache im erweiterten Sinn – auch bildlich, auch emotional. Sehnsüchte, Ängste, Hoffnungen werden verhandelt, universal gültig. Sprache, Denken, Wirklichkeit? Sie bedingen einander, untrennbar. Mit „Wild (Wild) Grammar“ setzt das EMAF fort, für was es seit den 1980er-Jahren steht: den Neuaufbruch in die Moderne.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.