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Jugend ohne Schutz

Berlin zieht viele Straßenjugendliche an. Wie sieht ihr Leben, ihr Alltag aus?

Auch hier verbringen manche ihre Jugend. Obdachlose in der Nähe des Reichstags Foto: dpa

Von Elena Erstling und Felix Regnart

Blitzschnell biegt er um die Ecke und springt im Fahren noch vom Fahrrad. Alex* klingelt. Aus der Sprechanlage mahnt eine Frauenstimme, Alex solle das Rad nicht mit hochbringen. Er stößt die Tür des Hauses in einem bürgerlichen Berliner Kiez mit dem Fuß auf. „Dann müsst ihr mir die 2.000 Euro zahlen, wenn das weg ist“, brüllt er und stürmt mit dem Rad unter dem Arm die Treppe hoch.

Alex ist einer der Teenager, die regelmäßig in die Einrichtung für nichtsesshafte Jugendliche in Not kommen. Dort können sie duschen, ihre Wäsche waschen und sich den Sozialarbeiter*innen anvertrauen. Außerdem können bis zu 16 Jugendliche hier übernachten, die ersten drei Nächte inkognito. Heute gibt es zusätzlich Frühstück.

Auf einer Couch schläft Manne. Es ist schon 14 Uhr, und um ihn herum wird gegessen, gefeilscht, geredet – keine zum Schlafen einladende Situation. Ihn scheint das nicht zu stören.

Manne ist Straßenjugendlicher, laut einer Studie des Deutschen Jugendinstituts von 2017 einer von ungefähr 37.000 bundesweit. Frank, um die 40, tätowiert und mit Dutt, ist in der Einrichtung sein Ansprechpartner. Kommen Unbekannte, stellt er sich schützend vor die Jugendlichen. Später wird er zugänglich. An den Wänden seines Büros hängen zwei Gitarren.

Wer kommt hierher? „Es sind fast immer vernachlässigte, alleingelassene Kinderseelen“, sagt Frank mit Empathie. „Vertrauensprobleme, Beziehungsunfähigkeit und Abkapselung können Folgen der Vernachlässigung in den Familien sein. Oft folgt dann ein langer Irrweg durch Jugendhilfeeinrichtungen mit Obdachlosigkeit als Endstation.“

Manne fiel ab seinem 13. Lebensjahr durch alle Raster. Beim Reden spielt der 20-Jährige mit dem Feuerzeug und fährt sich durch den selbst geschnittenen Undercut. Seine Mutter habe ihn damals rausgeworfen: „Ihr neuer Freund hat sie vor die Wahl gestellt. Er oder ich. Sie hat sich gegen mich entschieden.“ Er lebte anschließend in verschiedenen Einrichtungen, flog raus, konsumierte Drogen, wurde gewalttätig. Seinen Frust über das Sozialsystem merkt man Manne deutlich an: „Das System ist im Arsch“, sagt er.

Heute kommt seltener Besuch: Emmi, 28 Jahre alt, war lange selbst Straßenjugendliche und will ihren Hund von der Tierärztin der Einrichtung untersuchen lassen. Jetzt sitzt sie Manne gegenüber, zwischen ihnen ein kleiner Tisch mit Aschenbecher. Während sie erzählen, qualmen die beiden eine nach der anderen.

Mit 17 kam Emmi nach Berlin. In die Bundeshauptstadt kommen viele Straßenjugendliche, eine Erfassung ist wegen der hohen Dunkelziffer kaum möglich. Was bedeutet Jugend für Emmi? „Jugend ist fehlende Orientierung“, sagt sie. „Ich wusste nicht, wo ich hin will und was ich machen will.“ Sie ist froh, dass die Zeit ohne Dach über dem Kopf vorbei ist. Für Frank ist sie ein „Leuchtturm“.

Ausschlaggebend war für Emmi schließlich ihr Hund: Sie wollte nicht mehr, dass er im Kalten auf der Straße schlafen muss. „Ich selbst war mir da gar nicht so wichtig“, erinnert sie sich. Heute macht sie ihr Abitur nach.

Mannes Tage richten sich nach den Angeboten der Einrichtung. Darf er die Nacht dort verbringen, muss er morgens das Haus verlassen. Keine halbe Stunde später, erzählt der stämmige junge Mann grinsend, versucht er sich wieder hineinzuschmuggeln. Zufällig hat er dann etwas vergessen, muss duschen oder braucht dringend Hilfe. Frank, der sich dazugesetzt hat, feixt und klopft ihm freundschaftlich auf die Schulter: „ Deine Tricks kennen wir hier alle schon, mein Lieber.“

* Zum Schutz der Jugendlichen werden ihre echten Namen und der Name der Einrichtung nicht genannt.

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