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: Späte Rache für Gezi-Proteste in der Türkei: Staatsanwalt fordert Haftstrafen

Lebenslange erschwerte Haft. Das fordert der Istanbuler Generalstaatsanwalt für 16 prominente Vertreter der Zivilgesellschaft, die 2013 führend an den Gezi-Protesten beteiligt gewesen sein sollen. Der im In- und Ausland bekannteste Angeklagte ist der Kulturmäzen Osman Kavala, der schon seit fast 500 Tagen in Untersuchungshaft sitzt.

Neben Kavala sind die ehemalige Sprecherin der Bürgerinitiative für den Erhalt des Gezi-Parks, Mücella Yapıcı, der Schauspieler Memet Ali Alabora und dessen Ehefrau sowie der Journalist Can Dündar angeklagt. Gegen Dündar laufen nach Angaben seines Anwalts weitere fünf Strafverfahren. Der frühere Cumhuriyet-Chefredakteur ist vor mehr als zwei Jahren nach Deutschland geflohen. Auch Ali Alabora und seine Frau leben nicht mehr in der Türkei, sondern in London. Kavala dagegen wurde im Herbst 2017 verhaftet. Er ist der Erbe eines Industrieunternehmens und hat sich beim türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verhasst gemacht, indem er zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen finanziell unterstützte.

In der 657 Seiten umfassenden Anklageschrift, die die Staatsanwaltschaft am Mittwoch vorlegte, wirft sie den Angeklagten vor, sie hätten seit 2012 konspirativ die Gezi-Proteste vorbereitet. Diese entzündeten sich im Sommer 2013 daran, dass die Regierung im letzten Park in der Istanbuler Innenstadt Bäume abholzen lassen wollte, um ein Einkaufszentrum zu bauen. Als die Polizei gegen die Umweltschützer vorging, entwickelte sich aus der lokalen Protestaktion eine landesweite Widerstandsbewegung gegen Erdoğans autokratischen Regierungsstil. Die Proteste wurden blutig niedergeschlagen. Die Angeklagten sollen nun stellvertretend für die Protestbewegung lebenslänglich ins Gefängnis.

Die lange U-Haft von Kavala hatte schon vor der Anklage international für Protest gesorgt. Das von Kavala gegründete Anadolu-Kulturinstitut war mehrfach Projektpartner des Goethe-Instituts, der Mercator-Stiftung und französischer Institutionen.

Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatović, sagte am Mittwoch, die Anklage zeige, wie weit sich die Türkei von europäischen Menschenrechtsstandards entfernt habe. In Deutschland, Frankreich und England kritisierten einzelne Institutionen und Abgeordnete die Anklage scharf. Der grüne Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir sagte, die Anklage zeige, dass der Rechtsstaat in der Türkei „nur noch ein Trümmerhaufen“ sei.

Jürgen Gottschlich, Istanbul