: Viele blinde Flecke in der Pflege
Altenpflegehelfer muss Geldstrafe zahlen
Sechs Monate Haft zur Bewährung wegen der Misshandlung Schutzbefohlener – mit diesem Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Wandsbek vom vergangenen Jahr waren alle Seiten unzufrieden gewesen. Der angeklagte Altenpflegehelfer Jörg-Olaf G. fühlte sich zu Unrecht belangt, die Staatsanwaltschaft hatte mit 18 Monaten Freiheitsstrafe ein deutlich härteres Urteil gefordert. Nun sollte das Landgericht Hamburg in der Revision feststellen, was der 58-Jährige sich hat zuschulden kommen lassen.
In der ersten Instanz hatte der Prozess für viel Aufsehen gesorgt. Eine Kollegin von G., Sylke H., hatte eine Tonbandaufnahme angefertigt, auf der die Schreie einer alten Frau zu hören waren und G., der sie anschnauzt: „Das kann ich gar nicht ab.“ Die 84-jährige Hildegard T. war dement und an Schizophrenie erkrankt. „Das begünstigt Angst“, erklärte einer der Pfleger vor Gericht. Frau T. sei „speziell“ gewesen und auf die Umlagerung im Bett habe sie ängstlich reagiert – vermutlich hat sie schlicht nicht verstanden, was passierte.
Jörg-Olaf G., ein massiger Mann, sagte vor Gericht, dass er seinen Beruf gerne ausübe. Er machte kein Hehl daraus, dass sein Verhältnis zu Frau T. schwierig war. Sie reagierte ablehnend auf ihn, habe gekniffen – und er habe im beiderseitigen Interesse versucht, ihre Versorgung möglichst schnell hinter sich zu bringen. Die anderen Pflegerinnen und Pfleger bestätigten vor Gericht, dass Frau T. ängstlich war, aber sie alle sagten, dass sie mit genügend Zeit und Ruhe wenig oder keine der Abwehrreaktionen zeigte.
Jörg-Olaf G. hat seine Schwierigkeiten mit Frau T. nie mit KollegInnen besprochen, nie bei der Heimleitung um Unterstützung gebeten. Hört man die ehemaligen Heimleiter und Pflegedienstleiterinnen, die in rascher Folge wechselten, so war man mit noch offenkundigeren Problemen beschäftigt, etwa mit PflegerInnen, die betrogen und stahlen. Sylke T., in den Medien als Whistleblowerin gefeiert, wird von den früheren KollegInnen als schwierig beschrieben, als jemand, der fortwährend nach Fehlern bei den anderen gesucht habe. Ob denn etwas dran gewesen sei, fragte die Staatsanwältin nach. In der Regel ja, sagt einer der früheren Heimleiter.
Die Richterin sprach von einem „schwierigen“ Prozess. Nach G.s fristloser Kündigung seien die BewohnerInnen ruhiger gewesen, sagte eine Zeugin, es habe nicht mehr so viele blaue Flecken gegeben. G.s Anwalt bezweifelt, dass dieser dafür verantwortlich gemacht werden könne. Sicher ist eines in diesem Verfahren, dass die Pflege ein Ort mit vielen blinden Flecken ist. „Es ist alles nicht so einfach“, sagte eine frühere Kollegin von G. vor Gericht. Das hat ihn am Montag zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 15 Euro verurteilt.
Friederike Gräff
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