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Ein Pakt von Einsicht und Intuition

Das Land Berlin hat das Gebäude des Radialsystem V gekauft. Über die Visionen für die Immobilie wurde in den vergangenen Monaten spekuliert. Eine Bestandsaufnahme mit dem neuen künstlerischen Leiter Matthias Mohr

Matthias Mohr ist neu am Radialsystem, Friederike Hofmeister blickt bereits auf einige Jahre als Geschäfts­führerin zurück Foto: André Wunstorf

Von Astrid Kaminski

Viel Himmel, viel Fluss, ein leerer Raum und ein Tisch. So empfängt Matthias Mohr als neuer Programmleiter des Radialsystem V. Platz für Ideen gibt es hier genug. Um sie zu entwickeln, ist Mohr aus NRW, wo er Dramaturg am Choreografischen Zentrum Pact Zollverein und zuvor bei der Ruhrtriennale war, nach Berlin gekommen. Er hat Lust auf das Offene. Die braucht er auch, übernimmt er doch einen Ort ohne Programmbudget. Wer dort spielen will, muss sein Geld selbst mitbringen.

Das ist in Berlin nicht unüblich. Kaum eines der Häuser ohne festes Ensemble kann es sich leisten, Künstler*innen zu produzieren, die nicht bereits mit Fördergeld ausgestattet sind. Die einzige Ausnahme ist das Hebbel am Ufer, das am besten ausgestattete Haus der Freien Szene, das sich in wenigen Ausnahmefällen erlauben kann, eine Produktion auch dann zu gewährleisten, wenn die Künstler*innen keine Fördergeldzusage bekommen haben. In anderen Fällen können Jury-Entscheidungen ganze Spielpläne kippen. Wenn keine*r der Künstler*innen, die programmiert werden sollten, eine Förderung erhält, bleibt dem Theater der leere Raum.

Diese Situation hat Matthias Mohr in Kauf genommen. Dass „Drittmittelkuratieren“ seine Grenzen hat, räumt er ein, aber die Situation interessiert ihn auch: „Es ist durchaus eine Form des demokratischen Kuratierens. Es verpflichtet, den Raum offen zu halten und Synergien zu stiften zwischen den Entscheidungen anderer.“

Seine alte Heimat, Pact Zollverein in Essen, bleibt für ihn jedoch eine Orientierung am anderen Ende des Spektrums: „Vergleichbare Orte für die künstlerische Forschung findet man sogar im internationalen Vergleich selten.“ Tatsächlich ist das Essener Theater in mancherlei Hinsicht ein Wunschobjekt für die Berliner Szene: Es bietet Residenzprogramme für mehrere Dutzend Künstler*innen pro Jahr, es muss jedoch nicht als interdisziplinäre Spielstätte für Hunderte von freien Gruppen der Region herhalten, sondern kann eigene Schwerpunkte setzen. Und es überprüft, auch dank dieser Freiheiten, die eigenen Strukturen durch Formate wie ein „Friendly Takeover“, bei dem Leitungs- und Kuratier­modelle aus anderen Institu­tionen für einen gewissen Zeitraum implementiert werden.

Im Rahmen eines Fellowships beschäftigt sich etwa das Hood-Kollektiv mit der auch für Stadttheater dringenden Frage nach einem zeitgenössischen Ensemblebegriff als Zusammenspiel von Individuen. Berlin ist momentan noch weit davon entfernt, solchen Fragen Raum zu geben.

Dennoch ist das Radialsystem V an einem spannenden Moment seiner Geschichte. Viel hat sich dort in diesem Jahr verändert. Einerseits hat die landeseigene Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM) das Gebäude im Sommer nach einem Beschluss des Abgeordnetenhauses von privater Hand gekauft und damit als Kultur­standort gesichert. Andererseits haben die Gründer und Betreiber der Radialsystem V GmbH, die Kulturmanager Jochen Sandig und Folkert Uhde, mit der Einstellung von Matthias Mohr zum ersten Mal die Programmgestaltung in fremde Hände gegeben. Dass diese Veränderungen Hand in Hand gehen würden, war nicht klar, sondern ist einmal mehr einer Mischung aus gesunder Einsicht und Intuition der Macher zu verdanken.

Gegründet hatten sie den Standort aus einer Mangel­situation heraus. Jochen Sandig, der gleichzeitig der Geschäftsführer von Sasha Waltz & Guests, der größten Berliner Tanzkompanie, ist, war auf der Suche nach einem den Bedürfnissen der Gruppe angemessenen Ort. Uhde wollte der freien Musikszene bessere Bedingungen schaffen. Mit viel Überredenskünsten und der Expertise im Räume-Erobern, die Jochen Sandig als Mitbegründer des Tacheles und der Sophiensaele an den Tag legte, gelang es ihnen, die Industriebrache Radialsystem V zum Gesicht des neuen Spree-Berlin werden zu lassen.

Das ist eine Leistung, die ihnen so schnell niemand nachmacht. Auch durch finanzielle Krisen hindurch wurden im richtigen Moment die richtigen Schlüsse gezogen. „Mit Friederike Hofmeister und Janina Paul als Geschäftsführerinnen“, meint Mohr, „konnte das Haus seit 2012 konsolidiert und die Wirtschaftlichkeit gewährleistet werden.“ Etwa zwei Drittel seiner Einnahmen muss das Radialsystem, um bestehen zu können, aus kommerziellen Vermietungen erwirtschaften.

Die weibliche Doppelspitze hat dieses Ziel erreicht und trotzdem die notwendige Flexibilität geschaffen, um freien Künst­ler*innen-Gruppen ein verlässlicher Partner zu sein. Mit diesem Erfolg im Gepäck wird Paul nun weiter ans Konzerthaus ziehen, Hofmeister bleibt.

Im Essener Pact lernte Matthias Mohr die deutsche wie internationale Tanzszene schätzen

Matthias Mohr findet damit nicht nur eine solide Basis vor, sondern auch ein „Haus der vielen Szenen“, das sich Tanz- und Musikensembles wie Laborgras, Nico and the Navigators, das Ensemble Kaleidoskop oder das Vokalconsort mit türkischen, israelischen oder syrischen Exil-Communitys teilen. Vor allem für Letztere hatte sich stark auch die vor Ort arbeitende Choreografin Sasha Waltz eingesetzt. Inzwischen ist der monatliche Dabke-Abend, den syrische Künst­ler*innen initiierten, ein großes Szene-Event. Diese Diversität der Zielgruppen und Ästhetiken weiter auszubauen ist dem Halb-Kolumbianer, wie er sich selber nennt, ein Anliegen.

Gleichzeitig vereint er in seiner Person die zwei künstlerischen Sparten des Hauses, Tanz und Musik. An der Ruhrtriennale arbeitete der ausgebildete Musiktheater-Regisseur als Dramaturg unter dem Komponisten Heiner Goebbels. Und im Essener Pact lernte er die deutsche wie internationale Tanzszene schätzen. Gerade in Bezug auf interdisziplinäre Ansätze bescheinigt er ihr derzeit „besonders spannende künstlerische Vorschläge“.

Dieses Interesse wiederum kommt dem Senat, der das Radialsystem V für 2018 und 2019 zum ersten Mal mit infrastrukturellen Fördermitteln unterstützt, um vor allem der Tanzszene günstigere Anmietungen zu ermöglichen, entgegen. Die Politik hat eine Bedarfsermittlung beauftragt, die derzeit ausgewertet wird. Dass darunter auch ein eigenes Haus für den Tanz fällt, ist schon lange klar. Dass aber das Radialsystem V aufgrund seiner zu geringen Größe und als wichtiger Ort für die Musikszene diese Rolle nicht übernehmen kann, ist auch klar.

Vielmehr sieht die Politik in der neuen Immobilie das Potenzial einer „Ankerinstitution der Freien Szene mit Schwerpunkt auf dem zeitgenössischen Tanz“. Matthias Mohr kann sich durchaus vorstellen, auch zukunftsweisende Leitungsstrukturen in Bezug auf ein Tanzhaus, wie zum Beispiel „eine durch Künstler*innen verwaltete Institution“, modellhaft durchzuspielen. Das Radialsystem V scheint einen Synergetiker eingestellt zu haben. Der unverstellte Blick aus den fluss­seitigen Fenstern des Gebäudes ist Programm.

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