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Die Leiche im Tietjensee

Eine Frau aus Bremen verschwindet 1993 spurlos, die Polizei steht 25 Jahre später noch immer vor einem Rätsel – und beginnt mit einer für die Region beispiellosen Aktion: Sie pumpt einen See leer

VonSteffen Koller

An ein Happy End glaubt wohl niemand mehr. Nicht die Familie, die seit mehr als 25 Jahren auf ein Lebenszeichen wartet, nicht das Bremer Landgericht, das seit Mitte August dieses Jahres verhandelt. Auch ehemalige Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen – sie alle haben die Hoffnung längst aufgegeben. Die Hoffnung, Jutta Fuchs nach so langer Zeit noch lebend zu finden. 1993 verschwand die Frau aus Bremen-Farge spurlos, bis heute steht die Polizei vor einem Rätsel. Eine Leiche wurde nie gefunden, und doch sitzt mehr als ein Vierteljahrhundert später ihr ehemaliger Lebensgefährte, 58 Jahre alt, auf der Anklagebank. Die Staatsanwaltschaft legt ihm Mord an der damals 29-jährigen Frau zur Last.

Während der Angeklagte seine Unschuld beteuert, beginnt die Bremer Polizei am 6. Oktober eine spektakuläre Aktion. Es ist ein warmer Tag, als Polizisten, Helfer des Technischen Hilfswerks, Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr und ein Sicherheitsdienst am Tietjensee nördlich von Bremen eintreffen. Bereits Wochen zuvor hatten Beamte das mehr als 22.000 Quadratmeter große Areal hermetisch abgeriegelt, nun hievt ein Kran tonnenschwere Pumpen an das Ufer des Angelteichs. Mitglieder des Technischen Hilfswerks verlegen kilometerlange Rohrsysteme. Messstationen überprüfen die Pegelstände der angrenzenden Gräben. Filter sollen verhindern, dass Beweismittel, die möglicherweise vor mehr als 25 Jahren auf dem Grund des Gewässers entsorgt wurden, verloren gehen oder beschädigt werden.

Es beginnt, was Gerichtssprecher Gunnar Isenberg später als „alles Menschenmögliche“ bezeichnen wird. Man sei es „dem Opfer“ schuldig. Man sei es den Angehörigen schuldig, die auf Gewissheit hoffen, wird Isenberg sagen.

Der See wird abgepumpt, so hatte es das Landgericht angeordnet. Jugendliche hatten ein Jahr nach dem Verschwinden von Jutta Fuchs eine mit Steinen beschwerte Tüte aus dem Tietjensee gefischt. Inhalt: vermutlich persönliche Sachen der Frau. Die Gegenstände wurden kurz danach vernichtet. Der damalige diensthabende Beamte hatte die Entsorgung veranlasst.

Dieser Zufallsfund ist der Grund, warum nun, nach so langer Zeit, rund 35 Millionen Liter Wasser aus dem See in die nahe gelegene Weser gepumpt werden. 40.000 Liter pro Minute, was etwa 220 Badewannen entspricht. Die Ermittler hoffen, weitere Spuren zu finden. Bisher gibt es keine Beweise, die für die Schuld des heute 58-Jährigen ehemaligen Lebensgefährten sprechen. Auch fehlen konkrete Hinweise, die zweifelsfrei auf den Tod der Frau schließen lassen.

Dennoch glaubt Staatsanwalt Arne Kluger das Motiv für die mutmaßliche Tat zu kennen: Gekränkt sei der Angeklagte gewesen, weil Jutta Fuchs ihn verlassen wollte. Zusammen mit dem zweijährigen Sohn habe sie ausziehen wollen. Am 26. Juni 1993, am Tag ihres geplanten Umzugs, erscheint sie nicht wie verabredet an der Richard-Taylor-Straße. Kein Lebenszeichen. Kein Abschiedsbrief. Keine Leiche. Bis heute.

Bereits zum dritten Mal nach 1994 und 2008 untersuchen nun Ermittler den See. Bei vorherigen Tauchgängen sei aufgrund der schlechten Sicht nichts gefunden worden. Der dritte Versuch, medienwirksam in Szene gesetzt, soll nun Aufklärung bringen.

Am 9. Oktober, einem Dienstag, erinnert kaum noch etwas an den See, der drei Tage zuvor so still in der Sonne lag. Der Tietjensee ist leer. Nur vereinzelt blitzen kleine Pfützen am Boden auf. Alte Fischernetze liegen herum, Schlamm und Schlingpflanzen säumen das Ufer. Ein Fischer holt letzte Aale und Muscheln aus dem Schlick – dem Schlick, der bis heute im Fokus der Ermittlungen steht. Finden sich hier die sterblichen Überreste von Jutta Fuchs? Oder möglicherweise eine Tatwaffe? Vielleicht auch beides?

Staatsanwalt, Vorsitzender Richter, die Verteidiger des Angeklagten – alle sind zum See gekommen. Sie wollen sich ein Bild machen von der Aktion, von der Gerichtssprecher Gunnar Isenberg sagt, sie sei „sicherlich gerechtfertigt“: „Es geht um Mord.“ Während Medienvertreter ihrer Arbeit nachgehen, sichern mehrere Dutzend Beamte die Zufahrten zum See ab. „Das ist jetzt ein Tatort“, sagt Polizeisprecher Nils Matthiesen. Es solle von weiteren Besuchen am See abgesehen werden.

Polizeisprecher Nils Matthiesen über den Tietjensee

Anfragen werden von der Polizei mit dem Hinweis auf „laufende Ermittlungen“ abgewiesen, was Horst Wesemann, Verteidiger des Angeklagten, kritisiert. Er schätzt die Kosten für den beispiellosen Einsatz auf einen „sechsstelligen Betrag“ und moniert, dass Gelder „verschleudert“ würden, ohne dass die Öffentlichkeit über Erkenntnisse informiert werde. Staatsanwalt Kluger kontert, es werde „größtmögliche Gründlichkeit von den bestmöglichen Profis“ an den Tag gelegt.

Noch während der Beweisaufnahme am Landgericht wird deutlich, dass die Ermittler, die offenbar so gern unter sich sein wollen, groß aufgefahren haben. Kroatische Leichenspürhunde mit GPS-Trackern suchen den Grund des Sees ab. Mitarbeiter des Kampfmittelräumdienstes werden hinzugezogen, Drohnen kommen zum Einsatz, Probebohrungen werden durchgeführt. Auch habe man mit bloßen Händen im Schlamm gegraben, ist zu hören. Bislang ohne nennenswerten Erfolg. Ein Haufen Metallschrott – sonst nichts, was der Grund des Sees preisgibt.

Etwas mehr als zwei Wochen bleiben der Polizei noch. Am 12. November will das Landgericht die Beweisaufnahme im Fall Jutta Fuchs schließen. Mehr als zwei Wochen, um zumindest für Gewissheit zu sorgen. Sollten tatsächlich Hinweise gefunden werden, die auf den Tod der Frau schließen lassen, kommt das keinesfalls einer Überführung des heute 58-Jährigen gleich. Die Anklage, die vier mögliche Tatvarianten liefert, ist so schwammig wie der Grund des Tietjensees. So soll der Angeklagte die Frau „zu einem nicht exakt bestimmbaren Zeitpunkt auf nicht feststellbare Weise getötet und an einem bis heute nicht bekannten Ort verborgen haben“.

Antworten wird wohl nur der See geben können. Oder auch nicht.

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