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„Inklusion braucht keine Grabenkämpfe“

In ihrem neuen Buch, „Lotta Schultüte“, erzählt die Journalistin Sandra Roth von der langenund schwierigen Suche nach einer passenden Schule für ihre schwerbehinderte Tochter

Viele Schul­gebäude sind noch immer nicht barrierefrei, haben keine Pflegeräume, keine rollstuhl­gerechten Zugänge, berichtet Roth in „Lotta Schultüte – mit dem Rollstuhl ins Klassen­zimmer“ Foto: Bernd Wüstneck/dpa/picture alliance

Interview Birk Grüling

taz: Frau Roth, erzählen Sie mir von Lotta.

Sandra Roth: Lotta ist durch eine Gefäßfehlbildung im Gehirn schwer mehrfachbehindert. Sie sitzt im Rollstuhl und kann sich ihre blonden Haare nicht selbst aus dem Gesicht wischen. Sie ist blind und hat eine Schluckstörung. Das heißt, sie kann nicht kauen und nur Püriertes essen. Sie hat ab und zu epileptische Anfälle und darf deshalb nicht allein bleiben. Und sie kann nicht sprechen. Aber all das sagt ja nichts darüber aus, wer sie ist. Sie ist nicht einfach die Summe ihrer Behinderungen. Lotta ist neugierig, versteht alles und kann gut zuhören. Sie ist sehr ehrgeizig und übt sehr fleißig mit ihrem Sprachcomputer. Vor allem ist Lotta ein kleiner Charmebolzen und möchte bei allem dabei sein.

Trotz“ ihrer Einschränkungen besuchte Lotta einen „normalen“ Kindergarten.

Ja, das war ein langer Weg. Der Kindergarten ihres Bruders kam nicht infrage. Dort konnten die Kinder erst dann kommen, wenn sie mit drei Jahren windelfrei waren, für Lotta undenkbar. Aber auch viele integrative Kindergärten in Köln wollten Lotta nicht aufnehmen. Zum Glück fanden wir am Ende einen kleinen Kindergarten, in dem Lotta sofort willkommen war. Die Einrichtung wurde von einer Heilpädagogin und ein paar Eltern gegründet und hatte nur 30 Plätze.

Welche Erfahrungen haben Sie mit Inklusion im Kindergarten gemacht?

Wir haben im Kindergarten nicht nur erlebt, dass Inklusion funktionieren kann, sondern auch, wie sinnvoll sie ist. Gerade für ganz kleine Kinder ist es egal, ob jemand laufen oder sprechen kann, sie können es ja selber auch noch nicht. Diese Kinder sind mit Lotta gemeinsam groß geworden und hatten nie dieses Schubladendenken, das wir Erwachsenen haben. Lotta war dort einfach ein Kind, eine Freundin, eine Spielkameradin – und nicht das „Kind mit Behinderung“. Außerdem wurde Lotta dort großartig gefördert. Sie hat zum Beispiel auf einem Rollbrett krabbeln gelernt. Damit kann sie sich selbstständig durch die ganze Turnhalle bewegen. Allerdings mussten wir lange um eine Kita-Begleitung für Lotta kämpfen, die sie den ganzen Tag begleitet, die Pflege und die Förderung übernimmt. Die Bewilligung hat elf Monate gedauert und kam erst, als wir durch eine Anwältin mit Klage drohten. Inklusion darf aber kein Luxus sein, den man sich nur mit Anwälten und langem Atem erstreiten kann.

Fiel Ihnen die Schulwahl nach der positiven Inklusionserfahrung aus dem Kindergarten schwer?

Seit 2009 gilt in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention, genauso lange wie Lotta lebt. In Nordrhein-Westfalen haben wir als Eltern sogar einen Rechtsanspruch auf einen inklusiven Schulplatz. Das machte mir Hoffnung. Leider wurde ich schnell enttäuscht. Beim Tag der offenen Tür einer inklusiven Grundschule sagte mir der Schulleiter, dass zwar sein Gebäude barrierefrei sei, aber nicht gewickelt werde. Es gab keinen Pflegeraum und auch nicht den Willen, einen zu beantragen. Der Wickeltisch sei die Grenze, hieß es. Am Ende entschieden wir uns für eine Förderschule.

Was hat Sie am Ende von der Förderschule überzeugt?

Es war keine Wahl zwischen zwei gleichwertigen Alternativen: auf der einen Seite offene Ablehnung oder zumindest wenig gezielte Förderung, auf der anderen eine Rundumversorgung. Kinder ohne Behinderung holen sich in der Regel von überall den Input, den sie brauchen. Lotta kann das nicht, sie braucht gezielte Förderung. Auf der Förderschule, die sie nun besucht, hat sie viel mehr Möglichkeiten. Hier gibt es Physiotherapie, ein extra warmes Schwimmbad, Logopädie. Dazu kommen eine tolle Atmosphäre und sehr engagierte Pädagogen.

Wie hat sich Ihre Tochter denn auf der Förderschule entwickelt?

Lotta ist ein kleiner Streber und freut sich jeden Morgen, wenn der Wecker klingelt. Sie hat gelernt, aus einem Becher zu trinken, kann deutlich besser sitzen und macht große Fortschritte mit ihrem Sprachcomputer. Sie steuert ihn über „Auditives Scanning“. Dabei hört Lotta über einen Kopfhörer zwei Alternativen, zwischen denen sie wählen kann – zum Beispiel „Ich bin satt“ oder „Ich habe noch Hunger“. Hinter ihrem Ellenbogen hat sie einen Schalter am Rollstuhl, den muss sie dann betätigen, wenn sie das hört, was sie sagen will. So reden zu lernen, ist für Lotta ein wichtiger Schritt in Richtung eines selbstbestimmten Lebens.

Glauben Sie, dass diese Fortschritte auch an einer inklusiven Grundschule möglich gewesen wären?

Foto: Anké Hunscha

Sandra Roth ist Jahrgang 1977 und Journalistin. 2013 erschien ihr erstes Buch, „Lotta Wundertüte“, bei Kiepen­heuer & Witsch. Dort ist jetzt auch „Lotta Schultüte“ erschienen.

Hypothetisch ja. An den inklusiven Grundschulen, die uns tatsächlich zur Wahl standen, wahrscheinlich eher nicht. Alleine das Wissen in Sachen Unterstützter Kommunikation hätte dort gefehlt, ganz zu schweigen von Therapeuten oder Sonderpädagogen, die nicht nur stundenweise im Klassenzimmer sind. Allerdings verändern sich auch die Förderschulen durch die Inklusion. Schüler mit weniger ausgeprägten Behinderungen gehen eher an inklusive Schulen, sodass an den Förderschulen nur Kinder wie meine Tochter bleiben. In der ersten Klasse meiner Tochter konnten von elf Kindern nur noch drei sprechen. Die Schule meiner Tochter hat nun darauf reagiert und mischt ab sofort die Jahrgänge, um heterogene Klassengemeinschaften zu schaffen. Kinder lernen am besten von Kindern, die anders sind als sie selbst.

Wie beurteilen Sie den Status der schulischen Inklusion in Deutschland?

Wir haben noch einen sehr weiten Weg vor uns. Ob ein Kind auf eine inklusive Schule gehen kann, hängt immer noch davon ab, wie ausgeprägt seine Behinderungen sind und wo es wohnt, das zeigt zum Beispiel auch eine aktuelle Bertelsmann-Studie. Im Norden geht es besser voran als im Süden, und je weniger stark ein Kind behindert ist, desto eher besucht es den gemeinsamen Unterricht. Aber das Recht auf Teilhabe gilt ja für alle – es darf nicht davon abhängen, wie behindert jemand ist oder wo er oder sie wohnt. Und selbst wenn alle Kinder gemeinsam im Klassenzimmer sitzen, sagt das noch nichts über die Qualität des Unterrichts, da geht die Arbeit erst los. Die Rahmenbedingungen, die ja auch die Lehrer selbst fordern, machen genau das leichter: kleinere Klassen, größere und mehr Räume, barrierefreie Schulen, mehr Personal für Doppelbesetzungen und verpflichtende Weiterbildungsangebote. Es kann nicht sein, dass viele Lehrer nur mit einem längeren Gespräch auf inklusiven Unterricht vorbereitet werden. Das kann ja gar nicht funktionieren.

Das sind ja vor allem die Rahmenbedingungen. Wie steht es denn um die inklusive Haltung innerhalb der Schulen, vielleicht auch der Gesellschaft?

Es muss beides zusammenkommen: Haltung und Rahmenbedingungen. Nur mit Haltung kommt ein Rollstuhlfahrer nicht die Treppe hoch. Aber wenn meine Tochter an einer Schule unerwünscht ist und die Lehrer in ihr nur ein Problem sehen, dann bringt es mir auch nichts, wenn die Schule barrierefrei ist. Was ich mir wünschen würde, wäre mehr Neugier aufeinander und weniger Konflikte zwischen den Schulformen, zwischen Lehrern und Eltern, zwischen Politikern. An einer so großen Herausforderung wie der Inklusion müssen wir alle gemeinsam arbeiten.

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